Die zehn Tage der besetzten Gerhart-Hauptmann-Schule aus Sicht unserer Fraktionssprecher*innen.

Plötzlich ging alles ganz schnell. Seit Wochen hatten wir auf die Zusage der Senatsverwaltung für Unterkünfte für die Flüchtlinge gewartet. Dann sollten die Menschen aus der Gerhart-Hauptmann-Schule umziehen und endlich das Internationale Flüchtlingszentrum mit Raum für Initiativen und Wohnmöglichkeiten entstehen. Am Dienstag dann die SMS der Bürgermeisterin: Der Senat habe den Umzug der Flüchtlinge beschlossen. Von nun an sollten sich die Ereignisse überschlagen. Quasi im Minutentakt gab es neue Meldungen, der Tagesspiegel richtete einen Liveticker ein und unter #Ohlauer mischten sich auf Twitter aktuelle Informationen mit hasserfüllten Parolen und teils frei erfundenen Behauptungen. Inmitten dieses Chaos zum Zuschauen verdonnert, fiel es immer schwerer und war am Ende fast unmöglich, klar Position zu beziehen. Zu kompliziert war die Situation, zu schwer die Differenzierung jenseits der öffentlichen Schwarz-Weiß-Malerei. Aus den Erfahrungen auf dem Oranienplatz, wo einige Flüchtlinge andere Flüchtlinge mit Gewalt am Umzug gehindert hatten, hatten auch wir geschlossen, dass jede Bemühung, die Schule leerzuziehen, nur mit Polizeischutz möglich sein würde. Aber rund 1000 Polizist*innen, die über zehn Tage einen ganzen Kiez abriegeln? Polizeigewalt gegen eine Schüler*innendemo? Maschinenpistolen in Kreuzberg? Das wollten wir nicht. Und das hätten wir uns auch in den wildesten Träumen niemals vorstellen können. Wir haben die politischen Forderungen der Flüchtlinge immer unterstützt. Aber hieß das auch, die unzumutbaren Lebensumstände, diese Sackgasse namens Gerhart-Hauptmann-Schule zuzulassen? Oder hatten wir nicht die Pflicht, uns – auch gegen den Willen einiger – für ein menschenwürdiges Leben einzusetzen? Wir wussten, dass einige der Geflüchteten fürchteten, bei der Umquartierung abgeschoben zu werden. Aber rechtfertigte dies die Selbstmordandrohung oder die Drohung, das ganze Haus mit Benzin anzuzünden und damit das Leben vieler anderer zu bedrohen? Wir wussten, dass die massive Polizeipräsenz eine Provokation darstellte. Aber Morddrohungen gegen Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann (Grüne) inklusive Demos vor ihrem Wohnhaus? Die Situation nahm teilweise groteske Züge an.

Fast eine Woche später war die Situation verfahren. In mehreren Gesprächen sprachen wir mit SPD, Linkspartei, Piraten und dem Bezirksamt über die Situation: Einige auf dem Dach verbliebene Flüchtlinge drohten mit Selbstmord, sollten sie mit Zwang aus der Schule verbracht werden. Die Polizei wiederum drohte mit dem vollständigen Abzug, sollte der Bezirk kein Räumungsersuchen stellen. Der Innensenator weigerte sich derweil, mit den Flüchtlingen in Verhandlungen über diejenigen Forderungen zu treten, die der Bezirk nicht erfüllen konnte. Bei allen Parteien herrschte Ratlosigkeit, was zu tun sei. Denn eine solche Situation – eine der Politik unterstellte Verwaltungsbehörde erpresst die Politik – darf es eigentlich nicht geben.

Am Montag führten wir in der Fraktion mit dem völlig erschöpften Bezirksamt bis morgens um halb zwei die härteste und tiefgreifendste Diskussion, die wir bislang erlebt haben. Am Ende entschieden wir mehrheitlich, uns von der Polizei nicht erpressen zu lassen. Das Risiko für das Leben der Flüchtlinge erschien den meisten zu groß. Einen Plan B hatten wir jedoch nicht. Der Bezirk war endgültig zwischen allen Fronten und mit seinem Latein am Ende.
Am folgenden Vormittag um kurz vor 12 der Anruf unseres Landesvorsitzenden: Bezirksstadtrat Hans Panhoff (Grüne) habe soeben das Räumungsersuchen gestellt. Auf eigene Faust und Verantwortung. Wir waren überrumpelt und wütend. Sollten alle Diskussionen umsonst gewesen sein? Nicht auszudenken, wenn jemandem etwas zustoßen sollte.

Am Dienstagnachmittag trafen im Ältestenrat Vertreter*innen aller Bezirksfraktionen zusammen. Die Situation war bis aufs äußerste angespannt und wir wussten nicht, was in den nächsten Stunden gesehen würde, als wir Besuch bekamen. Angeführt von zwei altbekannten Gesichtern aus der linken Szene Kreuzbergs, betraten plötzlich etwa 20 Unterstützer*innen den Raum, die meisten nicht viel älter als wir selbst, und verlangten, dass wir sofort den Einsatz beenden sollten, da Menschenleben in Gefahr seien. Als wir ihnen erklärten, dies läge nicht in unserer Macht und wir wüssten auch nicht weiter, war der Zorn groß. Charakteristisch für die gesamte Situation an der Gerhart-Hauptmann-Schule: der Zorn war berechtigt und ungerecht zugleich. Natürlich ist es unverständlich, dass wegen ein paar hundert Flüchtlingen lieber für viel Geld die Polizei geholt wird, statt sie einfach hier leben zu lassen. Natürlich ist es erst einmal schwer begreiflich, warum einzelne Personen in dramatischen Situationen wie dieser soviel Macht besitzen und wir als Bezirksverordnete auch nicht mehr Handlungsmöglichkeiten als alle anderen Bürger*innen haben. Einiges von dem, was während des Besuches gesagt bzw. geschrien wurde, hätte auch von uns stammen können. Nur hatten wir unsere bezirkspolitischen Mittel und Möglichkeiten in den letzten eineinhalb Jahren ausgeschöpft und waren lange die einzigen, die sich in der Schule haben blicken lassen.

Als nach einem Tag des Bangens schließlich die Einigung unterzeichnet wurde, folgte auf die erste Erleichterung auch die Erkenntnis: Wir haben viele Scherben aufzukehren – und das Thema wird uns noch lange begleiten.

Paula Riester & Jonas Schemmel, Sprecher*innen der Bezirksfraktion