Anfang März war Luiz Inácio Lula da Silva für 5 Tage zu Gast in Berlin. Der 74-jährige Lula war von Januar 2003 bis Januar 2011 Präsident in Brasilien. Heute leidet das Land unter seinem derzeitigen Präsidenten und unter COVID-19.
Viele Anhänger*innen der Arbeiterpartei Brasiliens trotzten Wind und Regen und scheuten keine lange Schlange vor dem Festsaal Kreuzberg, um den „ewigen Präsidenten“ zu hören. Als Veranstalter fungierten unzähligen NGOs sowie die Gewerkschaft IG Metall und die Friedrich-Ebert-Stiftung, die Lula nach Berlin einlud. An jenem Abend wurde der Festsaal zur Bühne seiner Rehabilitierung im Rahmen seiner Europareise, nach 580 Tagen Gefängnis.
An jenem Abend des 10.03., gerade mal zwei Tage vor der Zuspitzung der Lage um das Corona-Virus, blickte man aus der Bühnenperspektive auf ein Meer aus roten T-Shirts und Mützen mit den Aufschriften „PT“ (Arbeiterpartei).
Begleitet wurde Lula von seiner neuen Lebenspartnerin, der Soziologin Rosangela da Silva, und vom Leiter der Landlosenbewegung MST. Hauptziel der Bewegung ist die Besetzung von Großgrundbesitz, sei es dort, wo das Land als Spekulationsobjekt brachliegt oder dort, wo schwerwiegend gegen Umwelt- und Arbeitsgesetze verstoßen wird.
Eigenlob über alles
Die einzige öffentliche Veranstaltung während seines Besuchs in der Hauptstadt hatte den Charakter eines Monologs. Lula sprach eine knappe Stunde über seine Regierungszeit und darüber, welche Maßnahmen er im Sinne der Arbeiter*innen vorgenommen habe. Die Kritik an der jetzigen Regierung dagegen fiel mild aus, besonders in Bezug auf den damaligen Bundesrichter Sergio Moro, der Lula nur anhand von Indizien ins Gefängnis brachte („Ich werde nicht sagen, was für ein Richter das ist„). Die Ergänzungen (nicht immer jugendfrei) kamen vom Publikum selbst.
Stolz erzählte der ehemalige Gewerkschafter über die Wohltaten seiner Regierung und der seiner Nachfolgerin, Dilma Rousseff (2011-2016). Auch von seiner Audienz bei Papst Franziskus, im März diesen Jahres, berichtete er ausführlich und seine Ernennung zum Ehrenbürger der Stadt Paris erwähnte er in genüsslicher Manier.
In Berlin ließ sich Lula pünktlich zum Weltfrauentag am Mahnmal von Rosa Luxemburg von seinem Hoffotografen Ricardo Stuckert ablichten und schickte über seinen Twitteraccount eine Botschaft an die Frauen der Landlosenbewegung, die an jenem Wochenende ihr erstes bundesweites Treffen abhielten. Frauen zu loben kommt immer gut an. Bei seiner neuen Liebe und Lebensgefährtin machte er sich hingegen nicht einmal die Mühe, sie dem Publikum als Anhängerin der Partei und Soziologin vorzustellen. Stattdessen erzählte er ausführlich und leidenschaftlich aus dem Nähkästchen, wie beide zusammenkommen sind („Sie schrieb mir jeden Tag im Gefängnis Briefe“) und fügte später am Abend noch hinzu: „Ich will in diesem Leben noch heiraten“.
Kein Wort zu den Fehlern seiner Partei oder gar seiner Regierung. Selbstkritik? Keine Spur. Lula ist Vergangenheit. Auch wenn viele an jenem Abend erleichtert und glückselig waren den ehemaligen Präsidenten in Berlin live zu erleben, bleibt die Zukunft seiner 40-jährigen, geschwächten Partei heute politisch wie juristisch so unklar wie nie zuvor. Nicht einmal ein Hauch einer Einschätzung der Handlungsspielräume für die diesjährigen Regionalwahlen, als auch für die Zeit nach Bolsonaro, war zu hören.
Nachdem das Virus auch in Brasilien angekommen war, wurde klar, dass es den Linken nicht gelingen würde, Bolsonaro, der sich weiterhin in dichte Menschenansammlungen begibt und dadurch Leben riskiert, in seinem unfähigen und gar verbrecherischen Umgang mit der Corona-Krise zur Raison zu bringen.
Ein Land am Abgrund
Die Welt muss gegen ein tödliches Virus kämpfen, Brasilien dagegen hat zwei mörderische Gegner: COVID 19 und Jair Bolsonaro. Der ehemalige Fallschirmspringer und überzeugte Militarist ignoriert die Anweisungen der WHO und seines eigenen Gesundheitsministers, geht demonstrativ händeschüttelnd unters Volk, bezeichnet die Corona-Infektion als eine „kleine Erkältung“, schwört auf Medikamente wie Chloroquin & Hydroxychloroquin, ignoriert die Wissenschaft und ihre Virologen und verspricht, Brasilien werde als erstes Land einen Impfstoff gegen das Virus herstellen und „die Welt retten“.
Der Gesundheitsminister Henrique Mandetta plädierte zunächst für eine Quarantäne ausschließlich für Risikopatienten, während die restliche Bevölkerung weiter arbeiten gehen solle um die Wirtschaft anzukurbeln. Nach heftiger Kritik aus den Medien und aus den Netzwerken änderte der Gesundheitsminister seine Linie, plädiert nun für die allgemeine Quarantäne und zitiert oft die WHO. Bolsonaro wiederum fasst dies als Majestätsbeleidigung auf und lies Rücktrittsforderungen laut werden.
Es wird einsam um den Präsidenten. Seine 3 wichtigsten Verbündeten, der Justizminister, der Präsident des Abgeordnetenhauses und der Wirtschaftsminister, wenden sich von ihm ab. Letzterer begab sich in freiwillige Quarantäne in seine Villa in Rio de Janeiro und war nur per Telefon zu erreichen.
Bolsonaro wurde am 2. April beim Menschenrechtstribunal in Den Haag angezeigt. Kläger ist der Verband brasilianischer „Juristen für Demokratie“. Der Vorwurf lautet: Genozid. Aus der Sicht der Juristen begehe Bolsonaro ein „Verbrechen gegen die Menschheit“, durch unverantwortliches Handeln und Untätigkeit und riskiere dadurch Menschenleben.
Fátima Lacerda für den Stachel 04/2020