Das Familienfest zum 1. Mai auf dem Mariannenplatz gibt es bereits seit 1996
Politik und Gesellschaft brauchen Rituale, um sich immer wieder zu finden und zu erfinden, um sich ihrer selbst und ihrer Ideale zu versichern.
Spannend wird es da, wo diese Rituale zur Reihe werden, eine Eigendynamik entwickeln und nicht nur die eigentliche Motivation der Handelnden wiedergeben, sondern sich auch selbst in ihrer Wiederholung selbst zitieren und neu erfinden. So geschehen und gesehen seit vielen Jahren bei den Maifestspielen in Kreuzberg. In schöner Regelmäßigkeit wiederholt sich seit 1987 ein Ritual, das ausgehend von einem authentischen Bedürfnis , allerdings schon zu seiner Geburtsstunde von unreflektierter Gewalt überschattet, heute nur noch sich selbst zitiert, nicht nach gesellschaftlicher Veränderung oder linken Visionen strebt, sondern nach dem Schutz der gemeinsamen Erwartungshaltung von Demonstrierenden wie Staatsmacht, sich heute mal so richtig auf die Fresse hauen zu können.
Familienfest statt Gewalt-Ritual
Da die Kreuzberger_innen zwar Rituale mögen, Traditionen aber traditionell kritisch gegenüberstehen, waren sie schon lange nicht mehr die Protagonisten der gewalttätigen Festspiele, eher die Leidtragenden. Soviel ideologische Blindheit, die Zerstörung des eigenen Kiezes begeistert zu zelebrieren, haben wir in Berlin dann doch seit 1945 abgelegt, auch wenn der Prozess bei manchen etwas länger gedauert hat.
Als Gegenentwurf wurde von Linkspartei, damals noch PDS und uns, Bündnis 90/Die Grünen, das Mariannenplatzfest ins Leben gerufen. Statt die Straßen, bzw. deren Pflasterung, nur als Munitionsdepot zu begreifen, sollten sie wieder zur Bühne einer politischen Willensäußerung werden und zwar der: Wir leben hier und zwar gerne und gemeinsam, ein Auseinanderdividieren gibt es nicht, Steine sind auch nicht besser als Knüppel und genau darum gehören die Straßen am 1. Mai jetzt wieder allen, also uns!
Anwohner_innen, Initiativen, Vereine, die ganz normale Kreuzberger Mischung, sind dem Vorschlag der beiden Parteien gefolgt und haben damit erstmalig 1996 auf dem Mariannenplatz dem 1. Mai in Kreuzberg frisches Leben eingehaucht, um den ehemals revolutionären Anspruch vor seiner eigenen traditionellen Verkrustung zu retten.
Seitdem ist viel passiert: Die revolutionäre 13 Uhr Demo steht einem bayrischen Kegelclub in Rückwärtsgewandtheit kaum nach und aus der Keimzelle auf dem Mariannenplatz ist das Myfest erwachsen. In Sinne der ursprünglichen Idee, Kreuzberger Alltag als täglich gelebte gesellschaftliche Forderung auf die Straßen zu tragen, feiert der Bezirk sich zwischen Kotti und Waldemarstraße selbst, der Mariannenplatz ist nur noch eine Bühne unter vielen. In diesem Sinne: Heraus zu einem revolutionären 1. Mai der Groß-, Klein- und Sozialfamilien, dessen revolutionärer Elan sich nicht in stumpfen Stroh- und Mülleimerfeuern gegen gefühlte Symbole und Büttel eines rigiden Staats richtet. Unsere Visionen für eine gerechtere, buntere, friedlichere Welt sollen nicht über Transparente und Sprechchören in den Blöcken der Journalisten ad acta gelegt, sondern über gelebten Zusammenhalt von Kreuzberg aus die Welt bekehren. Nichts weniger!
Boris Jarosch