Welche Auswirkungen haben autofreie Zonen auf einen Kiez? Mit welchen baulichen Maßnahmen kann man den Verkehr beruhigen? Welche Formen der Verkehrsberuhigung kann ein Bezirk rechtlich und finanziell stemmen? – Diese und weitere Fragen hat unsere Fraktion gemeinsam mit Expert*innen und Interessierten am 27. Mai bei einem Fachgespräch zum Thema „Bezirkliche Verkehrsberuhigung“ diskutiert.
Die Veranstaltung im Rathaus Kreuzberg hatten wir zum einen organisiert, weil uns das Thema dauerhaft beschäftigt – schließlich setzen wir uns seit langem als Fraktion an vielen Stellen dafür ein, dass der Verkehr in Friedrichshain-Kreuzberg beruhigt wird. Zum anderen aber auch, weil uns im letzten Jahr verstärkt Bürger*innenanfragen zum Thema erreichten. In den vergangenen Jahren haben sich in mehreren Kiezen im Bezirk Initiativen gebildet, die den PKW-Verkehr in einzelnen Straßen oder Bereichen beruhigen wollen. Das Fachgespräch hatte zum einen das Ziel, durch einen Input von Expert*innen einen neuen Blick auf das Thema zu bekommen. Zum anderen wollten wir auch mit Anwohner*innen und am Thema Interessierten ins Gespräch kommen.
Auf unserem Podium saßen Anja Hänel, die für den Verkehrsclub Deutschland (VCD) e.V. arbeitet und dort unter anderem den Bereich Mobilitätserziehung betreut, Prof. Dr. Thomas Richter, der an der TU Berlin den Fachbereich „Straßenplanung und Straßenbetrieb“ leitet, und Heribert Guggenthaler, Leiter des Referats „Planung und Gestaltung von Straßen und Plätzen“ bei der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt. Von allen dreien hörten wir halbstündige Kurzvorträge zu unterschiedlichen Themenaspekten.
Shared Space, Street Reclaiming & Co.
Prof. Thomas Richter stellte uns die einzelnen Elemente der Verkehrsberuhigung vor, darunter beispielsweise das Konzept „Shared Space“, eine Gemeinschaftsstraße oder ein gemeinsamer Straßenraum für alle, bei der weitestgehend auf Verkehrsschilder, Ampeln und Fahrbahnmarkierungen verzichtet wird. Der Fokus seines Vortrags lag auf baulichen Maßnahmen; er hatte zahlreiche Positiv- und Negativbeispiel aus ganz Deutschland dabei. Wir lernten unter anderem, dass der isolierte Einsatz baulicher Maßnahmen heute bei vielen Verkehrsplaner*innen als veraltetes Repertoire der 80er Jahre gilt, weil Versätze oder Einengungen häufig von Autofahrer*innen als reine Schikane betrachtet werden. Es mache, so Richter, in seinen Augen viel mehr Sinn, den Gesamtstraßenraum ganzheitlich so zu gestalten, dass auf den ersten Blick klar wird: Dieser Bereich ist verkehrsberuhigt.
Heribert Guggenthaler berichtete aus langjähriger Verwaltungssicht; der Schwerpunkt seines Vortrags lag auf der Umsetzung verkehrsberuhigender Maßnahmen. Auch er unterstrich in seinem Vortrag die Notwendigkeit, flächenhaft zu denken, wies aber gleichzeitig darauf hin, dass Sparzwänge teilweise punktuelle Einzelmaßnahmen unumgänglich machen würden. Er stellte diverse Maßnahmen vor, die seit 1977 in Berlin umgesetzt wurden. Als besonders sinnvolle Maßnahme stufte er den Umbau vierspuriger Straßen in zweispurige Straßen mit Fahrradstreifen ein, wie es etwa in der Lichtenberger Straße in Friedrichshain geschehen ist. Ein Bild blieb besonders im Gedächtnis haften: Die bildliche Darstellung, wie viel (Park-)Platz 60 Autos verglichen mit 60 Fahrrädern im Straßenraum einnehmen. Guggenthaler wies darauf hin, dass hier ein Umdenken bei Gewerbetreibenden stattfände: Schließlich könnten zehn radelnde Kund*innen ihr Fahrzeug auf demselben Raum parken wie ein*e einzelne*r Autofahrer*in.
Anja Hänels Vortrag konzentrierte sich auf den Aspekt „Autofrei“. Sie berichtete unter anderem von einem veränderten Nutzungsanspruch in Städten, der mit einem neuen Lebensgefühl – einer verstärkten Nutzung des öffentlichen Raumes durch Radfahrer*innen, Fußgänger*innen, Besucher*innen von Straßencafés etc. – zusammenhinge. Sie plädierte für kreative Lösungen im Rahmen des sogenannten „Street Reclaiming“, dem Zurückerobern der Straßen, dem bei dem die autofreien Nutzungen öffentlicher Räume stärker sichtbar gemacht werden. Der Raum wird dabei so gestaltet, dass sich das erwünschte Verhalten logisch ableiten lässt – etwa durch gestalterische Elemente wie ein „Willkommen“-Schild im Eingangsbereich eines verkehrsberuhigten Raumes. Auch temporäre Aktionen seien sehr wirkungsvoll, etwa, ein Straßenfest statt im Hinterhof auf dem Bürgersteig zu feiern.
Gesprächsrunden zu konkreten Beispielen
Nach den Vorträgen setzten sich die rund 30 Gäste in zwei Gruppen zusammen und diskutierten konkrete bezirkliche Beispiele zu den beiden Themenbereichen „Autofrei“ und „Bauliche Maßnahmen/Umsetzung“. Auch die Expert*innen gingen mit in die Gesprächsrunden, so dass viele Fragen direkt geklärt werden konnten. In den Runden wurde schnell klar, dass viele Anwohner*innen und Initiativen großen Klärungsbedarf zu bestimmten Situationen haben, beispielsweise zum Umbau der Waldemarstraße oder zur Lärmproblematik in der Friesenstraße. Diese und weitere Diskussionen werden uns auch künftig beschäftigen. Der Abend bot einen guten Einstieg in die Thematik und die Möglichkeit der Vernetzung. Wir danken unseren Referent*innen für ihren spannenden Input und freuen uns auf die Fortsetzung der Diskussionen!