In der Türkei geboren, in einem besetzten Haus in Berlin aufgewachsen, heute Anwalt und für die Grünen in der Bezirksverordnetenversammlung. Eine ganz besondere Kreuzberger Biographie
„Wo hast Du denn das schon wieder her“, fragte ihn sein Vater fassungslos. Ersin war gerade 10 Jahre alt geworden, erst vor einigen Jahren mit seinen Eltern aus der Türkei nach Berlin gezogen und überraschte seine Eltern regelmäßig. Neue Denkansätze, Pro- und Kontra-Listen oder Widerspruch aus Kindermund. Was dem Vater damals fremd erschien, hatte Ersin genau so bei seinen Nachbarn gelernt. Denn die Familie Uluç wohnte damals in einem besetzten Haus in der Lausitzer Straße neben der heutigen Regenbogenfabrik in Kreuzberg – und bezahlte als einzige Miete für die Bruchbude, die man der damaligen „Gastarbeiterfamilie“ gegeben hatte.
Für Ersin und seine vier Geschwister war das natürlich spannend: Ein riesiger Abenteuerspielplatz mit jungen Erwachsenen, die immer Zeit hatten zum Kochen, Werkeln und natürlich Diskutieren. Ersin saß meistens mit dabei, auf einem alten Sofa, trank Apfelsaft. Und hörte zu, wie die Hausbesetzer stundenlang debattierten. „Diese Diskussionskultur hat mir damals besonders imponiert“, sagt der 39jährige heute. Und seine Eltern, wohl das, was er davon mit nach Hause brachte.
Schultadel für Aufkleber gegen Pershing II-Raketen
Und das war nicht immer in ihrem Sinne. Einmal gab es Ärger mit der Grundschule, weil Ersin im Klassenzimmer Aufkleber verteilte. „Lieber Sonne statt Reagan“ stand darauf. Der amerikanische Präsident war gerade auf Berlinreise, um für die Stationierung der Pershing II-Raketen zu werben. Die Aufrüstung im Kalten Krieg nahm immer absurdere Formen an. Und der kleine Ersin hielt es für selbstverständlich, dagegen zu protestieren. Doch dafür hatten die Lehrer Anfang der 1980 Jahre selbst in Kreuzberg kein Verständnis.
Dass Kinder aus Einwandererfamilien auch Deutsche ohne Migrationshintergrund als Bezugspersonen haben, ist leider noch immer etwas Seltenes. Und für seine Schulkarriere waren die Erfahrungen mit den Hausbesetzern trotz mancher Tadel sehr wichtig. „Ich konnte im Unterricht immer mitdiskutieren und profitiere noch heute von dem, was ich damals gelernt habe“, sagt der Anwalt mit dem Schwerpunkt Wirtschaftsrecht, der noch immer mit seiner Familie in Kreuzberg wohnt.
Ein Gefühl von Heimat
Der Berliner Stadtteil ist für Ersin Uluç mehr als ein zufälliger Wohnort. Man sieht ihm an, dass er plötzlich wieder richtig sauer wird, wenn er davon erzählt, wie Andere manchmal von seiner Heimat sprechen – und damit einen Ort in der Türkei meinen. In Kreuzberg ist er aufgewachsen, hier kennt er jede Ecke, hier ist er Zuhause. „Es ist meine Heimat“, sagt er und ärgert sich jedes Mal, wenn ihm das einer abspricht.
Obwohl Ersin Uluç schon lange deutscher Staatsbürger und noch länger politisch aktiv ist, engagiert er sich erst seit 2000 in der Parteipolitik. Zunächst für die SPD, über deren Liste er in das Bezirksparlament gewählt wurde. Seit zwei Jahren ist er in den Bereichen Bürgerschaftliches Engagement, Jobcenter und Schulpolitik für die Grünen aktiv. Wenn es nach ihm ginge, sollten sich Deutsche mit Migrationshintergrund viel häufiger politisch engagieren. In seiner Grünen-Fraktion sind es immerhin drei. Doch selbst das sei erst der Anfang.
Als Vater von vier Kindern zwischen 7 und 16 Jahren ärgert es ihn maßlos, wenn Einwanderer-Familien vorgeworfen wird, Parallelgesellschaften zu bilden. Schließlich seien es deutsche Familien ohne „Migrationshintergrund“, die oft Druck auf Schulen machen, damit sie Klassen nur für ihre Kinder bilden. Ersin Uluç liebt Kreuzberg wie die vielen langjährigen und neuen Kreuzberger, weil es so vielfältig, multikulturell und von gelebter Solidarität geprägt sei. Doch hier zeige sich, dass dieser Maßstab immer weniger wichtig zu werden scheine.
Wer mit ihm diskutiert, merkt schnell: Ersin Uluç mag sich nicht damit abgeben, wenn er einen Missstand entdeckt. So wie es die Hausbesetzer seiner Kindheit ihm vorgemacht haben.
Christian Honnens