Worum ging es bei der Schulreform ursprünglich? Kurz gesagt, um die Gleichwertigkeit der Bildungsgänge und mehr Chancengleichheit. Die soziale Herkunft sollte nicht länger über den Bildungserfolg entscheiden. Was SPD und Linke nun zu Stande gebracht haben, verdient die Bezeichnung Reform jedoch nicht
Eine Reform wäre es gewesen, wenn die soziale oder ethnische Herkunft der Kinder ihren schulischen Erfolg weniger als bisher vorherbestimmen würde. Eine Reform wäre es gewesen, wenn alle Kinder nach ihrem individuellen Bedarf gefördert würden, statt befürchten zu müssen, nach kurzer Zeit wieder „abgeschult“ zu werden. Eine Reform wäre es schließlich gewesen, wenn Selektionsinstrumente wie das Sitzenbleiben, das Probehalbjahr und das Abschulen, alles Relikte aus Kaisers Zeiten, generell abgeschafft werden würden.
Nichts davon soll die Reform nunmehr leisten. Zwar soll das Probehalbjahr am Gymnasium auf ein Jahr verlängert werden, aber der grundlegende Unsinn der Probezeit bleibt bestehen. Was geschieht denn, wenn ein Schüler seine Probezeit am Gymnasium nicht besteht und zwangsweise auf die Sekundarschule muss? Er steht als Versager und Verlierer da – in seinen Augen, in den Augen seiner Mitschüler und in denen seiner Eltern. Diesen Kindern wird am Gymnasium wieder einmal gesagt, wie wenig sie können, anstatt ihre tatsächlichen Fähigkeiten und Talente herauszuarbeiten und zu fördern. Das Probejahr ist zugleich ein Instrument, welches die Gymnasien als vermeintlich bessere Schulen privilegiert. Die Sekundarschule als solche ist sicherlich keine Versageranstalt, aber der pädagogische Effekt ist gleichwohl verheerend. Von der behaupteten Gleichwertigkeit der beiden Bildungsgänge – immerhin eines der Kernanliegen der Reform – kann keine Rede mehr sein. Im Gegenteil, der rot-rote Kompromiss verstärkt die soziale Entmischung und führt die Reform ad absurdum.
Nicht minder absurd ist es, bei Übernachfrage die Hälfte der Schüler, insbesondere an Gymnasien, per Los bestimmen zu wollen. Ein großer Teil wird das Probejahr nicht bestehen und muss das Gymnasium wieder verlassen. Außerdem ist die scheinbar so objektive Chancengleichheit des Losverfahrens eine Illusion. Kinder aus sozial- oder sprachlich benachteiligten Elternhäusern werden von vornherein viel weniger im Lostopf landen, als Kinder von engagierten und mobilen Eltern. Wie das Losverfahren schließlich in der Praxis umgesetzt, kontrolliert und der Missbrauch verhindert werden soll, steht in den Sternen.
Das Elternwahlrecht ist zweifelsohne ein hohes Gut. Daran darf aber eine dringend nötige Reform nicht scheitern. Wer im Ergebnis keine Privilegierung der Gymnasien möchte, muss gleiche und gar strenge Zugangskriterien definieren, mit Verzicht auf ein Probejahr. Wenn ein Beratungsgespräch mit Eltern nicht hilft, muss den Schulen mehr Eigenverantwortung und Entscheidungskompetenz zugestanden werden, anstatt sie zum Spielball einer pseudogerechten Lotterie zu machen. Özcan Mutlu, Mitglied des Abgeordnetenhauses, bildungspolitischer Sprecher