Es gab einmal eine Zeit, in der es als Gotteslästerung galt, das Wort ‚Kapitalismus’ überhaupt in den Mund zu nehmen. Aber die Sympathie für den Teufel lebt wieder auf
Die Arbeitskämpfe der letzten Jahre bei Opel, AEG, Nokia oder aktuell im Öffentlichen Dienst haben die linksradikale Szene dazu animiert, lokale Unterstützungsgruppen zu bilden. Zur Vernetzung dieser bundesweiten Gruppen trafen sich vor gut zwei Monaten Interessierte zu einem Informationsaustausch in Berlin. Neben wirtschaftshistorischen Analysen wurden konkrete Erfahrungen ausgetauscht. Anhand des Beispiels Nokia wurde herausgearbeitet, worin Kampferfolge bestehen können: Entwicklung von Konsumentenboykott; möglichst hohe Abfindungen und somit Aufbau von Drohpotenzial gegenüber anderen Unternehmen; Verstärken der Imagekrise für alle Unternehmen und den Kapitalismus; ein Lernprozess, dass Verzicht im Betrieb sich nicht auszahlt; ein Lernprozess, dass die EU-weiten Subventionsregeln verschärft werden müssen; ein Lernprozess, dass es eine stärker international orientierte Bewegung der Beschäftigten braucht, um nicht gegeneinander ausgespielt zu werden; Veränderung der Gewerkschaftskultur; Initiierung von Eigenüberlegungen, den Strukturwandel voran zu bringen.
Zum Stand der Diskussion
Verwoben mit der Transformation der Industrie- in eine Wissensgesellschaft verschärft die kapitalistische Aneignungsweise die negativen Folgen für große Teile der Bevölkerung aufgrund technologischer Entwicklung sowie der Durchdringung des Wirtschaftens und Lebens. Betroffene der Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen sind all diejenigen, die von deren Bereitstellung abhängig sind, indirekt alle Erwerbstätigen. Und zwar aufgrund von Deregulierung und Flexibilisierung der Formen und Inhalte von Arbeit sowie durch den Abbau von Rechten, Löhnen und sozialer Sicherung.
Seit den 70er Jahren haben dies vor allem die Gewerkschaften zu spüren bekommen. Ihr Einfluss schwand, die Mitgliedszahlen sanken fast so schnell wie ihr Image. Die Unternehmen zwangen sie zu immer weiter gehenden Entgegenkommen. Die Massenerwerbslosigkeit und die Durchlöcherung der Flächentarifverträge waren Folge und Mittel zugleich, um nach 1989 die Interessen der Unternehmen immer kompromissloser durchzusetzen.
Daher sahen sich die Gewerkschaften gezwungen, Gründe für diese Entwicklung zu erforschen und sich neu zu positionieren. Neben organisatorischen Veränderungen zeigte sich immer mehr, dass auch die gewerkschaftliche Praxis während der Nachkriegsjahrzehnte mit zur Erodierung beigetragen hatte. So hatten die korporative Einbindung der Gewerkschaften, ihre Verknüpfung mit der SPD und der langanhaltende Verteilungsspielraum durch enormes Wirtschaftswachstum sie dazu verleitet, sich auf die Verrechtlichung der Arbeitsbeziehungen zu konzentrieren. Es hielt eine Stellvertretermentalität Einzug, die nicht nur die Funktionäre vorlebten; auch die Mitglieder internalisierten die Delegierung von Interventionsmacht. Als dritte interne Fehlentwicklung stellte sich die bedrückende Unzufriedenheit mit der Organisationskultur heraus, die es versäumte, neue Entwicklungen in der Arbeits-, Kultur- und Privatsphäre aufzugreifen.
Es dauert natürlich, bis sich eine Großorganisation wie z. B. der DGB an neue Rahmenbedingungen angepasst hat. Lediglich die fortschrittlichsten Teile diskutieren die richtigen Fragen, um gegen den sozialen Rückschritt konstruktiv vorgehen zu können. Elemente dieser Erkenntnisse sind die Notwendigkeit, die Stellvertretermentalität abzulegen und die Mitglieder wieder zu befähigen, den Widerstand in die eigenen Hände zu nehmen; die verstärkte Bündnisarbeit mit bisher vernachlässigten Gruppen in ihrer Eigenschaft als Erwerbslose, Prekarisierte, Migranten, Konsumenten und Privatisierungsgegner; eine verstärkte internationale Kooperation und die Entwicklung eines zivilgesellschaftlichen Innenlebens, wozu die Auseinandersetzung mit allen Themen und Fragen der Gesellschaft gehört. Wir können gespannt sein.
Walter Schmidt