Afghanistan zwischen Wiederaufbau und Gewalteskalation

Seit mehr als acht Jahren sind deutsche Soldaten in Afghanistan. Aber trotz der ständigen Erhöhung der Truppenstärke ist die Sicherheitslage in den letzten Jahren nicht besser, sondern dramatisch schlechter geworden. Der nun angekündigte Strategiewechsel der Bundesregierung ist nicht glaubwürdig.

Schlechte Sicherheitslage

Die Zahl der deutschen Soldaten mit ISAF-Mandat wurde inzwischen fast verzehnfacht. Trotzdem können die Soldaten etwa das Feldlager Kunduz nicht oder nur in Konvois mit gepanzerten Fahrzeugen verlassen. Ein normaler Kontakt zur Bevölkerung ist kaum möglich – geschweige denn ausreichend Schutz für ZivilistInnen. Die Antwort von NATO und Bundesregierung auf die desolate Sicherheitslage ist: mehr Soldaten, mehr Offensiveinsätze, mehr Krieg. Wie nie zuvor seit Kriegsbeginn wird die Gesamtzahl der Soldaten um fast 40.000, und die der deutschen um 850 erhöht. Gleichzeitig beginnt die größte Militäroffensive seit 2001 im Süden des Landes. Der militärische Konflikt wird verschärft, nicht beendet, die Offensivstrategie erweitert, nicht gestoppt und die Anzahl der getöteten Menschen droht weiter anzusteigen. Im Jahr 2009 wurden mehr als 600 Zivilpersonen durch Bombardierungen der NATO und mindestens 1.600 wurden durch „Aufständische“ getötet – so viele wie nie zuvor.

Deutsche Kriegsführung

Ursprünglich sollte das deutsche ISAF-Mandat, anders als das für OEF (Operation Enduring Freedom), auf Eigensicherung und Schutz der Bevölkerung beschränkt sein. Spätestens seit der Bombardierung der Tanklastwagen und Menschenmenge auf deutschen Befehl am 4. 9. 2009 nahe Kunduz wissen wir, dass die Bundeswehr an Offensiveinsätzen und der tödlichen Jagd auf Aufständische beteiligt ist. Sehenden Auges wurden über einhundert Menschen getötet, darunter viele Zivilpersonen und Kinder. Das defensive Mandat gibt es faktisch nicht mehr.

OEF- und ISAF-Mandat sind in der Praxis nicht zu unterscheiden. Derselbe General ist der Kommandeur für beide. Ohne Rücksicht auf das jeweilige Mandat werden die Soldaten eingesetzt, auch die der Bundeswehr. Aber die gezielte Vernichtung von Menschen, selbst dann wenn sie für Aufständische gehalten werden, sieht das ISAF-Mandat nicht vor. Es berechtigt zum Einsatz von militärischer Gewalt nur in Notsituationen zur Nothilfe oder Notwehr. Die Bundesregierung weigert sich aber bis heute, verbindlich zu erklären, dass sie die Bombardierung vom 4.9. 2009 und überhaupt Einsätze mit dem Ziel der Vernichtung von Menschen ohne Notsituation vom ISAF-Mandat als nicht gedeckt ansieht. Sie stellt gegenüber der Truppe nichts klar. Weitere solche Einsätze will die Bundesregierung also offensichtlich nicht ausschließen.

In der Begründung des Antrages verspricht die Bundesregierung zwar das zivile Engagement nahezu zu verdoppeln. Sie schließt sich den Plänen der US-Regierung ohne eigenes Friedens- und Ausstiegskonzept an, eine Übergabe der Verantwortung an die afghanische Regierung ab 2011 einzuleiten. Pläne einer Abzugsstrategie sowie Bekenntnisse zu Versöhnung, Ausstiegsprogrammen und Verhandlungen mit den Aufständischen sind richtig aber unglaubwürdig, weil gleichzeitig die verhängnisvolle Offensivstrategie mit viel mehr Soldaten unversöhnlich fortgesetzt und intensiviert wird. Wie will man die, die man jagt, um sie auszuschalten, davon überzeugen, an den Verhandlungstisch zu kommen. Das passt nicht zusammen. Der Krieg wird verschärft ohne den Verhandlungen eine Chance zu geben.

Gerade auch im Norden, also im Verantwortungsbereich der Bundeswehr, werden US-Kampftruppen in einer Stärke eingesetzt, die erheblich größer ist als die der Bundeswehrsoldaten (ca. 5.000). Mit den zusätzlichen US-Soldaten wird die US-Einsatzstrategie des „Counter Insurgency“ einschließlich gezielter Tötungen in allen Provinzen die militärischen Operationen dominieren. Damit würde auch eine andere „deutsche Strategie“ konterkariert.

Außerdem wissen wir seit dem 4. September 2009 von der Existenz der geheimen Sondereinheit der Bundeswehr TF 47 (Talk Force 47). Was diese tatsächlich treibt, ist unklar. Es heißt, sie solle sich um Zielpersonen kümmern. Die Bundesregierung gibt zum konkreten WIE bisher nicht viel Auskunft. Immerhin räumt sie inzwischen ein, dass ein Soldat der Sondereinheit an weiteren Einsätzen beteiligt war, bei denen CAS (US-Bombenflugzeuge) von deutscher Seite angefordert wurden. Zumindest in einem weiteren Fall vom Juli 2009 mit dem Ergebnis, dass fünf Menschen getötet wurden. TF 47 ist offensichtlich Teil der offensiven Ausschaltung von Aufständischen, tot oder lebendig.

Fortschritte beim zivilen Aufbau

Der zivile Aufbau wurde jahrelang vernachlässigt. Die Ausgaben für Militär waren im Gegensatz dazu viermal höher. Trotzdem gibt es Erfolge bei der Strom-, Wasser- und Gesundheitsversorgung, beim Straßenbau, bei der Errichtung von Schulen und anderen Bildungseinrichtungen. So hat die Millionenstadt Kabul jetzt wieder nahezu durchgehend elektrische Stromversorgung und in weiten Teilen Wasserversorgung. Gleiche Rechte für Frauen sind von der Verfassung anerkannt. In den Städten gibt es viele Beispiele für eine Praxis der Gleichstellung. Dies wird von der Bevölkerung auch begrüßt. Es bleibt aber viel zu tun – gerade in den ländlichen Gebieten. Noch immer stirbt etwa jede halbe Stunde eine Afghanin an den Folgen von Schwangerschaft und Geburt und eine weitere an Tuberkulose. Die Zivilgesellschaft muss beim Wiederaufbau mehr einbezogen werden, damit die internationalen Hilfsgelder bei der Bevölkerung auch ankommen und Korruption zurückgedrängt wird. Eine umfassende Evaluierung über die Wirksamkeit und den Verbleib von Hilfsgeldern aus Deutschland fehlt leider bisher.

Auch der Polizeiaufbau für Friedenszeiten ist unzureichend. Es fehlt an Ausbildern aus Europa und Deutschland und an einem geeigneten Konzept. Angesichts der Zahl von 70 Prozent Analphabeten bei den Polizeibewerbern reichen acht Wochen Ausbildungszeit nicht aus. Hinzu kommt die schlechte Bezahlung und Ausstattung, so dass es ca. 30 Prozent „Schwund“ gibt. Eine verantwortbare „Exit“-Strategie Eine verantwortbare „Exit“-Strategie heißt nicht, Afghanistan im Stich zu lassen. Sicherheit für die Bevölkerung und ziviler Aufbau kann aber so wie bisher nachhaltig nicht erreicht werden. Bemühungen um ernsthafte Verhandlungen mit Allen unter Einbeziehung sämtlicher Nachbarstaaten sowie um Versöhnung sind der richtige Weg. Die Tür dafür scheint einen Spalt offen. Dieser Weg einer politischen Lösung muss gegangen werden. Daher müssen die offensiven Kampfhandlungen und Bombenangriffe gestoppt werden.

Hans-Christian Ströbele, Mitglied des Bundestages