Das öffentliche Schüren von Hetze und Ängsten gegenüber Geflüchteten kann nicht vergessen machen, was wir in den letzten Jahren erlebt haben: einzigartige Sternstunden unserer Zivilgesellschaft.
Wie diese mit einer rasant anwachsenden Bereitschaft zum Engagement die vielfältigen Herausforderungen aufgegriffen hat, die die Ankunft von unerwartet vielen Geflüchteten mit sich brachten, ist eine bisher nicht dagewesene neue Qualität der Bürgergesellschaft in der Geschichte der Bundesrepublik. Aber nichts ist „erledigt“. Fragen wir uns also einmal, wie diese Erfahrungen unser Selbstverständnis als Bewohner einer Stadt, die ganz besonders von Migration geprägt ist, möglicherweise verändern kann. Was haben wir als Zivilgesellschaft Neues erfunden? Haben wir Umgangsformen auf Augenhöhe dabei eingeübt? Wo hat engagiertes Handeln die Lebensbedingungen der Geflüchteten stabilisiert und wo nicht, aus welchen Gründen? Die Ermutigungsformel „Wir schaffen das“ war keine Erfindung Angela Merkels, sondern eine der Bürgerinnen und Bürger, die ohne Auftrag anfingen Beziehungen zu knüpfen, Netzwerke und Projekte zu bilden, um sich tatkräftig konkreten Hilfeleistungen zuzuwenden, die die Geflüchteten dringend benötigten. Das zeigte sich nicht erst im „Sommer der Geflüchteten“ 2015, sondern bereits drei Jahre zuvor, als die Zeltstadt auf dem Oranienplatz aufgebaut wurde und Kleidung, Matratzen, Geld, Küchenutensilien, Lebensmittel etc. in großer Fülle gespendet wurden.
Engagement als neue soziale Bewegung
Offensichtlich ist eine weit verzweigte neue Form sozialer Bewegungen entstanden, die mit starkem Bezug zur lokalen Lebenswelt die Bedeutung persönlicher Hilfe betont, Lust am Improvisieren hat und das pragmatische Anpacken mit offenem Ausgang nicht scheut. Die einen koordinieren eine Kleiderkammer, andere nehmen einen unbegleiteten minderjährigen Flüchtling bei sich auf, begleiten Jugendliche beim Sport oder erteilen private Deutschkurse. So ist eine Kunst gewachsen, die die Potenziale der Stadtgesellschaft zu nutzen vermag: eine Kunst, die Kooperationen bildet mit Anwält*innen, Schulen, Stadtteilzentren, Kirchen, Unternehmen, KiTas, Medien, Nachbarschaftshäusern, Beratungsstellen, dem Quartiersmanagement, Theatern, Fußballclubs, Volkshochschulen, Jugendzentren, Museen, den Tafeln, interkulturellen Gärten, Musikern, Autoren, Ämterbegleitungen usw.
Nie zuvor war der Radius von ehrenamtlich Engagierten derart weit und zugleich so dicht. Menschen haben zusammengearbeitet, die sehr verschiedenen sozialen Milieus angehören, und ein gewisser Hunger nach neuen persönlichen Erfahrungen war sicher auch dabei…
Aber auch viel Stress, bei dem intensive face-to-face-Beziehungen manchmal auf der Strecke blieben.
Ehrenamtliche Arbeit braucht politische Unterstützung
Hinzu kommt: Unterstützung durch Ehrenamtliche ist oft situationsbezogen, für intensive Begegnungen bleibt zu wenig Zeit. Und das Leben in einer Notunterkunft ist ruhelos, deprimierend und (bis hin zum Mittagsmenü) extrem fremdbestimmt. Wie kann da eine Stabilisierung der Migrant*innen nach der Flucht gelingen?
Wie sich 2015 vor dem Berliner LaGeSo exemplarisch zeigte, waren mehrere staatliche Institutionen dermaßen überfordert, dass Ehrenamtliche ihr Engagement auch als frustrierend bis hin zu Burnout und Ohnmachtsgefühlen empfanden. Zentrale Themen wie Wohnen, Arbeit, Familie, Bildung lagen sowieso nicht in ihrer Hand, aber es gab ein großes „Jetzt erst recht“.
Aber ohne mehr politische Unterstützung für ehrenamtliche Arbeit und die Förderung von langfristigen Strukturen statt kurzatmiger Projektorientierung wird das Engagement abnehmen, wie sich bereits jetzt zeigt. Zudem wird das Zurechtfinden der „neu“ Angekommenen nur gelingen, wenn nach all dem Stress nicht auch eine entspannte Geselligkeit entsteht – mit dem Austauschen von Geschichten, mit nachbarschaftlichen Begegnungen, kulturellem Leben. Diese kommunikativen Dimensionen für eine gelingende „Integration“ sollten wir ernster nehmen.
Begegnungskultur statt Leitkultur
Aber nicht so, wie dies seit 20 Jahren geschieht. Noch 2017 hat der damalige Bundesinnenminister Thomas de Maizière die bisher hoffentlich letzte Debatte zu einer „deutschen Leitkultur“ entfachen wollen. Darin wollte er „unsere sozialen Gewohnheiten“ verbindlich machen („Wir geben uns zur Begrüßung die Hand“, „Wir sind nicht Burka“), die Religion sei unser sozialer „Kitt“, was die Kirchen einigermaßen empörte.
Das Zuwanderungsgesetz von 2015 sieht eine verpflichtende Teilnahme an Integrationskursen für alle Eingewanderten vor. Neben 600 Stunden Basis- und Aufbaukurs Deutsch besteht dieses Paket auch aus einem Orientierungskurs von 100 Stunden, in dem Kenntnisse über die Grundwerte, Politik, Kultur, Geschichte und Alltag vermittelt werden. Hier wird die Wertedebatte lebendig und in zwischenmenschlicher Kommunikation geführt, unbeschwert vom Klotz „leitkultureller“ Statements. Die Kurse schließen mit einer Prüfung ab. Niemand muss einem Horst Seehofer die Hand geben (ebenso wie niemand am 1. April einen Aprilscherz von sich geben muss).
Ehrenamt als deutsches Spezifikum
Auffällig ist auch, dass in keiner Leitkulturdebatte die besondere Bedeutung des ehrenamt-lichen Engagements erwähnt wird, dabei ist dies wirklich ein deutsches Spezifikum. Nach verschiedenen Untersuchungen üben ca. 15 Millionen erwachsene Deutsche regelmäßig ein Ehrenamt aus, im weiteren Sinne sind sogar etwa 36% der Bevölkerung freiwillig ehrenamt-lich engagiert, und zwar mehr denn je dort, wo sich auch die Geflüchteten bewegen, also in den Sportvereinen, Schulen, KiTas, kulturellen und sozialen Projekten.
Lebensformen und Gewohnheiten bilden und verändern sich zumeist in lokalen, klein-räumigen Zusammenhängen – dort, wo soziale Nähe, Freundschaften und Bekanntschaften entstehen und das gesellige Leben immer weitere Kreise erobert.
Was wir heute weiter zu entwickeln haben, ist eine lebendige Kultur der Begegnungen auf Augenhöhe. Sie muss auf funktionierenden Institutionen gründen, zivilgesellschaftliches Engagement mit Förderprogrammen und Projektmitteln finanziell unterstützen, Pfade vom Ehrenamt in bezahlte Beschäftigung bahnen und die Bedingungen dafür sichern, dass Zugewanderte sich von Anfang an wertgeschätzt fühlen können.
Text von Wolfgang Lenk für den Stachel 2018