Foto: ck

Am 14. August wurde der Spätkauf von Zekiye Tunç in der Oranienstraße 35 zwangsgeräumt. Ihr langer Kampf gegen die Verdrängung geht damit in eine neue Runde.

Am Tag der Räumung hatte Zekiye keine Kraft mehr selbst vor Ort zu sein, als die Schlüssel zu ihrem Späti dem Gerichtsvollzieher übergeben wurden. Der zweieinhalb Jahre dauernde Kampf gegen die Verdrängung und für den Verbleib ihres Spätis „Ora35“ ist an diesem Tag in eine neue Runde gegangen. Denn der Familie Tunç ist es wichtig, dass der Kampf weiter geht.

Das Haus, in dem sich der Späti im Erdgeschoss befand, wurde vor wenigen Jahren an die Bauwerk Immobilien GmbH verkauft. Der leider bekannte Verdrängungsprozess von Kleingewerbe setzte ein: Die neue Eigentümerin verlängerte den Gewerbemietvertrag nicht, sondern wollte, dass der Späti schließt. Es wurden Angebote an die Bauwerk gemacht, doch die Vertragsverhandlungen liefen ins Leere. Zekiye zahlte die Miete für ihren Laden weiter und führte ihre Geschäfte wie gewohnt.

Zekiye ist Teil des Kiezes und ihr Späti ein sozialer Treffpunkt

Im Oranienkiez ist Zekiye seit vierzig Jahren fest verwurzelt. Schon seit sie als junges Mädchen nach Kreuzberg kam, lebt und arbeitet sie hier. Zuerst beim Vater im Gemüseladen, der auch schon in der Oranienstraße war, dann betrieb sie ihre eigenen, ganz unterschiedlichen Geschäfte, um sich und ihrer Familie eine Existenz aufzubauen. Seit nunmehr zehn Jahren betrieb Zekiye den Oranienspäti, der für viele Nachbar*innen der Ort war, wo man sich auf ein Getränk traf, sich unterhielt und austauschte. „Schatzi, willst du einen Kaffee?“ empfing einen Zekiye, wenn man im Späti vorbeischaute. Er war Teil der besonderen Kiezkultur in Kreuzberg.

Als im Juni 2019 ein Gerichtsvollzieher im Laden auftauchte und Zekiye die Vollstreckungsmitteilung für die Räumung des Spätis übergab, reaktivierte sich der Protest, der sich bereits vor zwei Jahren, als der Vertrag auslief, formierte. Man kann sagen: Der Kiez lehnte sich auf. Die Kreuzberger*innen solidarisierten sich mit der Familie und ihrem Späti. Mehrere Initiativen, u.a. die OraNostra, ein Zusammenschluss der Gewerbetreibenden in der Oranienstraße, mobilisierten zu Kundgebungen und Demonstrationen, es wurden Transparente gemalt und in die Fenster der Nachbarschaft gehängt, Flugblätter verteilt.

Die Gesprächsangebote an die Bauwerk wurden ignoriert

Mehrere Briefe und zig Postkarten wurden an die Geschäftsführerin der Bauwerk, Anke Polster, geschrieben; unsere direkt gewählte Bundestagsabgeordnete, Canan Bayram, setzte sich tatkräftig für Zekiye und ihren Späti ein. Doch abermals scheiterte die Kontaktaufnahme seitens der Bauwerk.

Zweimal fuhr Zekiye nach Hamburg mit dem Ziel, persönlich mit Frau Polster zu sprechen. Ihre Hoffnung war es, dass Frau Polster sie nicht aus ihrem Späti schmeißen würde, wenn sie sich gegenübersäßen und in die Augen schauten. Das zweite Mal begleitete sie ein breites Unterstützungsnetzwerk auf der Fahrt mit dem Solibus nach Hamburg. In lautstarken Kundgebungen wurde deutlich gemacht: Wir lassen uns in Kreuzberg nicht von Frau Polster oder der Bauwerk diktieren, wer unsere Nachbar*innen sind. Wir wollen Zekiye mit ihrem Spätkauf als Nachbarin behalten. Doch die Geschäftsführerin verweigerte wieder das Gespräch.

Es braucht bessere Instrumente und Gesetze, um Gewerbe zu schützen

In Deutschland gibt es kein wirkungsvolles Gewerbemietrecht, das Mieter*innen wie Zekiye schützt. Die Bundesregierung hat kein Interesse daran etwas zu ändern, obwohl Investor*innen mit den Existenzen von Menschen spielen. Trotz jahrelanger gewerblicher Tätigkeit ist Zekiye, genauso wie viele andere Gewerbetreibende, ungeschützt, wenn ihr Vertrag nicht verlängert wird. Es macht wütend, dass vielfältige Gesprächsangebote, breiter und solidarischer Protest der Nachbarschaft und darüber hinaus, von der Eigentümerin des Hauses einfach ignoriert werden können. Die Verdrängung von Zekiyes Späti als sozialer Treffpunkt steht exemplarisch für die Umwälzung unserer Kieze in leblose Straßen.

Doch der Kampf geht in eine neue Runde: Wir lassen nicht zu, dass Investor*innen meinen, entscheiden zu können, was Kiezkultur sei. Das entscheiden die Anwohner*innen. Als Politiker*innen haben wir die Aufgabe, uns weiter vehement dafür einzusetzen, dass bessere Instrumente und Gesetze zur Verfügung stehen, um Gewerbetreibende – vom inhabergeführten Kleingewerbe über die Kita bis hin zum Künstleratelier – vor der Gnade und Willkür der Immobilieneigentümer*innen zu schützen.

Für Zekiyes Späti werden aktuell neue Räumlichkeiten in Kreuzberg gesucht.

Silvia Rothmund, Mitglied im Geschäftsführenden Ausschuss für den Stachel September 2019