Wieder einmal hatte die Falle der Alternativlosigkeit unerbittlich zugeschnappt. Eine Partei hatte sich zur Hüterin von Freiheit und Grundrechten aufgeschwungen, die grundsätzlich für Ausgrenzung, Diskriminierung und Nationalismus steht und die eine erklärte Feindin der offenen Gesellschaft ist. Das war perfide und pervers zugleich: Pervertiert wurde die Idee der Freiheit, perfide aber war es, weil es jede kritische Nachfrage zu den getroffenen Maßnahmen verstummen ließ. Mit solchem „Volk“ wollte keiner was zu tun haben. Und so haben wir uns gefügt.
Die Übertragungswege von Covid-19 sind auch uns Laien inzwischen sehr verständlich und plausibel erklärt worden. Mit Abstand und Maske und ausreichender Belüftung in Innenräumen werden die Aerosole abgeschirmt und von der eingeatmeten Luft ferngehalten. Damit lässt sich das Ansteckungsrisiko um über 95% senken. Genau nach diesen Regeln sind Kultureinrichtungen vorgegangen. Ein Theaterbesuch unter den strengen Auflagen der vergangenen Monate barg somit, wenn man den Einlassungen der Wissenschaft folgt, ein deutlich geringeres Risiko als jede U-Bahnfahrt oder ein Einkauf im Supermarkt. Man kann daraus schließen, dass es unter dem Deckmantel einer behaupteten Notwendigkeit im Lockdown light die Falschen getroffen hat.
Der Mensch lebt nicht vom Geld allein.
Es geht um sinnvolle und zweckmäßige Maßnahmen. Es wurde aber offensichtlich zunächst vor allem das geschlossen, was der Politik entbehrlich erscheint. Und dazu scheint die Kultur entgegen aller Bekundungen weiterhin zu gehören. Das Schwungrad des privaten Konsums – einem der größten Klimakiller – sollte hingegen ungebremst weiterlaufen. Wichtig blieb einmal mehr, was sich im BIP messen lässt. Und so lösen sich auch die scheinbaren Widersprüche auf. Die Kriterien liegen klar auf der Hand. Morgens stellt die Fahrt zur Arbeit in der überfüllten U-Bahn ein tolerierbares Risiko dar, abends ist dieselbe Fahrt zu Freunden oder ins Konzert in der halb leeren U-Bahn nicht hinnehmbar. Alles klar?
Aber so funktioniert das nicht. Das Virus ist nicht bestechlich, es dient nicht dem Wohl des BIP. Wo man es lässt, breitet es sich weiter aus. Warum zum Beispiel wird die Bahn nicht verpflichtet, Fahrkarten ausschließlich mit Reservierung zu verkaufen und entsprechend den Abstandsregeln Plätze nicht zu besetzen? Warum unterliegt der Flugverkehr keinerlei Beschränkungen? Da sitzen Menschen zum Teil über Stunden auf engstem Raum nebeneinander. Von Abständen, wie sie auch während der sogenannten Lockerungen im Kino galten, kann keine Rede sein.
Lockdown light ist gescheitert
Deutlich geworden ist auch, dass die Verlagerung von Zusammenkünften heraus aus der Gastronomie mit ihren klaren und überprüfbaren Regeln hinein in den privaten Wohnbereich nicht zu einer Verringerung des Infektionsgeschehens geführt hat. Auch dort traf es damit vermutlich die Falschen. Dennoch wurden die Maßnahmen über den 30. November verlängert. Um hier nicht missverstanden zu werden: Bei konsequenten Einschränkungen für einen begrenzten Zeitraum, die alle betreffen und eine spürbare Reduktion der Fallzahlen erreichen, wie sie jetzt Mitte Dezember beschlossen wurden, ist die Kultur sofort mit dabei! Was wir hingegen erleben mussten, waren halbherzige Maßnahmen, die vor allem das soziale und kulturelle Leben beschnitten. Ganz abgesehen von den psychosozialen Folgen, der Vereinsamung, den Depressionen und Schlimmerem. Und dafür wird niemand* die Verantwortung übernehmen.
Mittlerweile ist klar: Lockdown light ist gescheitert. Und mit ihm der Versuch, die ökonomischen Interessen auch in dieser Pandemie über das Wohl der Menschen zu stellen.
Darum geht es.
Henry Arnold für den Stachel, Dezember 2020