Monika Herrmann war acht Jahre unsere grüne Bürgermeisterin im Bezirk. Im Stachelgespräch zieht sie Bilanz und blickt nach vorne.

Stachel: Was war Dir in diesen acht Jahren zwischen 2013 und 2021 das Wichtigste und Prägendste Deiner Amtszeit?

Monika Herrmann: Als ich das Amt 2013 von Franz Schulz übernommen hatte, war die Karawane der Geflüchteten bereits am Oranienplatz angekommen. Das hat mich bis 2016 ganz zentral beschäftigt, die Menschen dort und dann zusätzlich die Menschen in der Gerhart-Hauptmann-Schule. So etwas hat keine Bürgermeister*in bis dahin erlebt seit dem 2. Weltkrieg. Der Bezirk hat den Platz den Geflüchteten überlassen, da wir sicher waren, dass sie an diesem Ort vor Rechten oder Nazis geschützt sind. Auf der anderen Seite haben wir sofort unsere Grenzen gespürt – schließlich konnten wir nicht die Asylgesetze verändern. Das wurde zunächst nicht verstanden, viele dachten, ich könne ihnen als Bürgermeisterin Pässe geben. Irgendwann habe ich das mal buchstäblich in den Sand gezeichnet, wie die Strukturen hier sind, welche Kompetenzen wir haben. Ich kann mich noch sehr gut erinnern, wie entsetzt viele waren. Nachhaltig geprägt hat uns alle dann die Situation in der Gerhart-Hauptmann-Schule, als irgendwann 15 Männer – es waren tatsächlich alles Männer – auf dem Dach standen und sagten, sie springen runter. Da geht es plötzlich um Leben und Tod. Und darauf bist Du nicht vorbereitet, nicht als Bürgermeisterin eines Berliner Bezirks.

 

Stachel: Ihr wart völlig unvorbereitet und letztlich ohne Hilfe von außen. Was ist dennoch rückblickend gut gelaufen, was hätte man anders besser machen können?

MH: Ganz grundsätzlich sage ich heute: Man muss die Situationen vom Ende her denken. Also: Den Platz freizugeben oder die Schule zu öffnen ohne die unmittelbaren Auswirkungen zu bedenken, war fast ein wenig naiv. Auf dem Platz gab es keine Toiletten, keine Möglichkeiten sich zu waschen, es gab keine reguläre Essensversorgung, die Menschen haben teilweise in selbstgebastelten Zelten gelebt. Andererseits wollten die Menschen zu uns nach Kreuzberg kommen und das haben wir selbstverständlich möglich gemacht. Wir haben gehandelt, akut reagiert – aber es war letztlich nicht durchdacht. Konnte es aber vielleicht auch nicht sein. Insofern kann ich nicht genau sagen, was ich anders gemacht hätte.

 

Stachel: Wir haben jetzt durch den Krieg in der Ukraine eine neue Situation mit erneut Tausenden von Geflüchteten allein in Berlin. Hier wird, scheint mir, eher in diesem Sinne gehandelt und vom Ende her gedacht, vor allem, was das Energie-Embargo betrifft mit seinen mögliche Konsequenzen. Aber muss man nicht auch manchmal radikal sein?

MH: Emotional kann ich diese Forderung nach Radikalität total verstehen. Aber was folgt dann? Entweder die Leute sind gut situiert und haben vielleicht schon ihre Solaranlage auf dem Dach, dann können sie das eher wegstecken. Aber alle anderen? Es ist sicher nicht meins, alles der Wirtschaft unterzuordnen, aber es wird Arbeitslose geben. In Berlin machen sie jetzt schon Notfallpläne, weil die Versorgung noch nicht einmal bis zum Herbst reichen wird. Die Gefahr besteht, dass unser Land mit den offensichtlichen Tendenzen Richtung rechts in eine Situation gestürzt wird, die du politisch nicht mehr auffangen kannst. Und es ist nicht nur die Energie. Es sind auch Rohstoffe und Lebensmittel, die dann fehlen. Emotional bin ich wie gesagt dabei, aber Politik mit dem Kopf, die zwei Schritte weiter denkt, ist mir dann doch deutlich lieber.

 

Stachel: Wieder zurück zu Dir – und da wir jetzt schon mitten in der Gegenwart sind: Was steht zurzeit auf Deiner Agenda?

MH: Abgesehen davon, dass mir die Mobilitätswende u. a. als Sprecherin der LAG Mobilität weiterhin am Herzen liegt und ich mich im Team des GA (Geschäftsführender Ausschuss) des Kreisverbandes engagiere, koordiniere ich die Stadträt*innen der Berliner Bezirke. In vielen Bezirken gibt es nur einen grünen Stadtrat oder Stadträtin, die Situation ist also weniger gemütlich als bei uns in Xhain. Da brauchen wir ein anderes System des Austauschs, nicht allein auf fachlicher Ebene. Es geht auch darum, wie es unseren Leuten geht, wie der Umgang mit den Stadträt*innen der anderen Parteien funktioniert, wie die Stimmung in der BVV ist. Dann kam der Krieg. Zunächst wurden Ehemalige nicht angesprochen, daher habe ich selbst nachgehakt und jetzt hat mich der Staatssekretär für Gesundheit gefragt, ob ich mir vorstellen kann, den Krisenstab der Senatsverwaltung für Gesundheit zu unterstützen, als Verbindungsstelle zur Senatsverwaltung für Integration und Soziales. Und das bauen wir jetzt auf. Mit Vertrag, das muss sein, aber ohne Geld, ich mache das rein ehrenamtlich.

 

Stachel: Stichwort Mobilitätswende: Viel ist schon sichtbar, gerade bei uns im Bezirk. Würdest Du selbst das zu Deinen größten Erfolgen zählen?

MH: Na ja, da hatte ich ja nur zwei Jahre Zeit! (lacht) Meine größten Erfolge sehe ich eher in einem Bereich, auf dem der Fokus nicht unbedingt liegt, und zwar im Bereich des Jugendamts Friedrichshain-Kreuzberg. Wir haben mit die höchste Dichte an Kinder-Jugend- und Freizeit-Einrichtungen, die höchste Dichte an Familienzentren und familienfördernden Angeboten. Gilt leider immer noch, gerade in der Presse, als Gedöns. Interessiert keinen. Wir haben außerdem große Projekte zum Thema vorurteilsfreie Bildung und Erziehung gemacht und sind damit bis ins Europaparlament eingeladen worden, um das darzustellen. Anti-Bias-Ansätze, Frühförderung, vom Kind ausgehend. Und zugleich war uns wichtig, den Eltern zu helfen. Wo oft keine Familienstrukturen mehr da sind wie in einer Großstadt wie Berlin, sind Eltern sehr häufig sehr schnell überfordert. Du hast plötzlich die Verantwortung für ein Wesen, das komplett hilflos ist und musst alles darauf einstellen. Da haben wir in den vergangenen 15 Jahren in meiner Zeit als Stadträtin und Bürgermeisterin die Unterstützungs-Infrastruktur massiv aufgebaut.

 

Stachel: Wo siehst Du die größten Herausforderungen für die Zukunft, was muss am dringendsten angepackt und vorangetrieben werden?

MH: Da kommen wir jetzt doch zum Umbau des öffentlichen Raums – und das meint nicht nur das Thema Verkehr, sondern auch die Themen Stadtquartiere, Klimaschutz und einiges mehr. Zum Thema Verkehr: Natürlich würde ich gerne den gesamten Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg autofrei haben. Geht aber nicht! Geht leider nicht einfach so, wie wir uns das vorstellen. Wir sind mitten drin in dieser Stadt. Bei uns gibt es hauptsächlich Durchgangsverkehr. Daher sind die Außenbezirke so wichtig. Dort muss die Infrastruktur zur Reduzierung des Individualverkehrs bereitgestellt werden.

 

Stachel: Acht Jahre, die nun abgeschlossen sind: Gibt es ein vorherrschendes Gefühl? Wehmut? Erleichterung? Oder eine Mischung?

MH: Was viele nicht wussten: Das war ganz geplant. Daher waren einige überrascht, andere, die mich besser kennen, weniger. Ich habe immer gesagt, dass ich nicht mehr als drei Wahlperioden machen will, also die 15 Jahre als Stadträtin und dann Bürgermeisterin. Wehmütig gar nicht. Es ist ja unter anderem auch die Frage durch die Presse gegangen, ob ich Senatorin für Verkehr werden möchte, und da habe ich gesagt: „Naja Leute, dann kann ich auch Bürgermeisterin bleiben. Ist cooler!“ (lacht). Politik zu verantworten in einer Führungsposition ist so etwas wie Hochleistungssport. Rund um die Uhr am Ball und gefordert. Das kann man eine Weile machen, aber dann muss man auch aufhören. Ich bin jetzt 58 und wir haben viele tolle junge Leute in unserer Partei, von Mitte 20 bis Ende 30. Mein Vorteil ist, ich habe eine gewisse Routine, da kann ich den Nachfolgenden schon mal sagen, bleibt ruhig, bleibt entspannt. Aber die Anstrengung von Sitzungen bis spät in die Nacht – irgendwann reicht das auch mal. Eine Aufgabe bleibt aber noch: Ich will, dass alle 6 Wahlkreise im Bezirk grün werden, und nicht nur 5!

 

Stachel: Das steht dann also an für 2026! Dir weiterhin viel Erfolg und Danke für das Gespräch.

 

Das Gespräch führte Henry Arnold

 

Dieser Artikel erschien zuerst im Stachel, der bündnisgrünen Parteizeitung in Xhain.