Station to station XVII

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Mensch! Genauso hab ich mir Kreuzberg vorgestellt

Die Wende, Elke und das Zusammenwachsen

I Historische Ereignisse werfen in der Regel ihre Schatten voraus, heißt es. Doch selten geschieht etwas so unerwartet und mit voller Wucht wie der unblutige Auftakt zur Veränderung der deutschen Verhältnisse im Jahre 1989. Dass diese „Friedliche Revolution“ bereits den 20ten Jahrestag zählt, mag erstaunen angesichts immer noch tobenden Stasi-Diskussionen, die sich in ihrer Aufgeregtheit gerieren, als wär’s gestern gewesen. Weniger auffällig, jedoch mit kaum verminderter Schärfe wird um die Deutungshoheit gerungen. Die Deutschen haben nun eine ausgerutschte Vergangenheit zusätzlich zu bewältigen, und das zu Zeiten, wo die letzten NS-Prozesse noch nicht stattgefunden haben. So ist auch der Anteil der sogenannten Bürgerrechtler am Zusammenbruch des DDR-Systems umstritten. Opposition, ja Alternatives, hat stattgefunden, und zwar fast ausschließlich unter dem Dach der Kirche, wo man Musikkonnzerte und Literaturlesungen abhielt sowie nicht sprachlich geregelte Debattenkultur praktizierte. Die Samariterkirche mit den Bluesmessen, die St.-Bartholomäus-Kirche mit dem Antikriegsmuseum und der Friedensbibliothek, die Pfingstkirche mit dem „Kirchentag von Unten“ die Galiläakirche mit ihrer spezifischen „Offenen Arbeit“ sind zu historischen Aushängeschildern der auch so genannten „Demokratiebewegung in der DDR“ avanciert. Sie stehen allesamt in Friedrichshain.

Es gab soziale Netzwerke und Subkultur, Freiräume wurden genutzt, um kleine Parallelgesellschaften zu entwickeln, doch wie, und ob überhaupt, all dieses zum Mauerfall beigetragen hat, ist unklar. Für die alles beiseite schiebende, finale Dynamik, der das System schließlich zum Opfer fiel, gibt es bis dato keine plausible Erklärung, der Faden der Vernunft reißt hier ab.

II

Elke Böttcher kommt aus Görlitz, ist seit 1981 in Berlin und wohnte 1989/90 in der Ebelingstraße in Friedrichshain. Zur Wendezeit war sie bereits Mutter von zwei Kindern. Sie arbeitete zunächst als Ingenieurin im Kraftwerksanlagenbau in der Abteilung Forschung und Entwicklung und anschließend im Großhandel, Abteilung Energieanwendung, in der Colbestraße in Friedrichshain. Heute leitet sie im Rahmen ihrer Arbeit bei der Hedwig-Wachenheim-Gesellschaft das Jugendwiderstandsmuseum in der Galiläakirche. Sie ist Mitglied bei Bündnis 90/Die Grünen. Es folgt ein Auszug aus einem Interview, wo sie die Stunden des Mauerfalls nach der Schabowski-Pressekonferenz in ihrer eigenen Erlebniswelt schildert. An diesem Abend hatte ich Clubdienst, ich arbeitete ehrenamtlich im Clubaktivs des Literaturcafés. Wir waren spät dran, und mein Begleiter sagte: „Lass uns ein Schwarztaxi nehmen, es ist schon so spät.“ – Schwarztaxi war ein DDR-Phänmen. Es gab ja so wenig Taxen in der DDR. Man hat einfach die Hand rausgehalten, kleine Strecke fünf Mark, große Strecke zehn Mark. Das war Verhandlungsbasis. Der Taxifahrer sagte, er hätte da was gehört in puncto Grenzöffnung, wüsste aber auch nichts genaues. Ob wir nicht hinfahren wollten. Wir bräuchten auch nicht bezahlen. Ich hab dann gesagt: „Erstens habe ich ja jetzt Dienst, und zweitens ist mir das zu heiß und ungewiss. Ich habe zwar einen Babysitter aber der muss auch irgendwann mal gehen, und wer weiß, was da los ist, und ich rechtzeitig bei den Kindern zurück sein kann?“

Ich bin also erstmal ins Café gefahren. Da haben wir dann versucht, das Radio in die Gänge zu bringen, was nicht so einfach war, weil ja niemand Ost-Radio gehört hat. Es war vergeblich, wir haben es nicht hingekriegt. Wir wussten nichts. Fernsehen hatten wir natürlich nicht. Es kamen laufend Leute, die wissen wollten, ob wir schon was gehört hätten. Die sind dann weiter gezogen – niemand kam zurück. Wir haben dann überlegt, ob wir zumachen und zur Grenze fahren sollen. Ich habe gesagt: „Ich trau mich echt nicht. Wenn man da rüber kann und dann nicht mehr zurück, und dann ist Panik, und meine Kinder wachen morgen früh auf, und ich bin nicht zuhause. Das geht nicht.“ Irgendwann sagte meine Kollegin: „Ich brauch jetzt nen Schnaps.“ Es gab in der DDR den Falkentaler Whiskey, so eine Art Flachmann. Ich weiß nicht, wie viel da drin war, aber wir haben drei davon niedergeknüppelt und waren danach auch gut angetrunken. Irgendwann haben wir dicht gemacht, wir waren ja eh ganz alleine. Ich bin dann nach Hause und meine Kollegin zur Grenze. Nachts um fünf klingelte dann mein Nachbar, doppelt so breit wie ich und einen Kopf höher, mit Unterhemd, Shorts und einer Bildzeitung vor seinem dicken Bauch: „Eh Mädel, haste verpennt, wa? Grenze is uff!“ „Ne,“ sagte ich, „habe ich schon gehört.“ Da war er ganz traurig, dass ich das Ereignis auch schon mitbekommen hatte.

Da ich dann mal schon mal wach war, bin ich auch gleich wach geblieben. Ich hatte noch eine Flasche Rotkäppchen-Sekt zu Hause gehabt, und fand das alles ganz toll. Den Sekt hab ich mit auf Arbeit genommen und war unterwegs noch ein Kuchen gekauft. Gleich zur Grenze hab ich mich nicht getraut. Ich stand ja noch in einem Dienstverhältnis. Ich hab dann meine Arbeitskolleginnen zu Sekt und Kuchen eingeladen. Unser Parteisekretär sagte, auf dieses Ereignis anstoßen könnte er nicht. Aber den Kuchen hat er dann doch gegessen. In der Mittagspause war ich mit meinem Kollegen Uli dann das erste Mal in Kreuzberg. Rüber sind wir über die Oberbaumbrücke, die damals noch ziemlich zertrümmert aussah und haben dann eine Runde über die Schlesische bis zur Wrangelstraße gedreht. Und ich dachte: Mensch! Genauso hab ich mir Kreuzberg vorgestellt.

III

Was es bedeuten kann, gegen den Strom zu schwimmen, erfährt man, wenn man samstags abends am U- Bahnhof Warschauer Straße versucht , in Richtung Westen ein zu steigen, und zwar gegen die geballte Wucht der Welle von meist bierflaschenbewehrten, unternehmungslustigen jungen Menschen, die fest entschlossen den Party-Bezirk Friedrichshain auserkoren haben, ihr Wochenend-Glück zu vervollkommnen. Hierbei stellt man sich ihnen besser nicht in den Weg, sondern wartet in sicherer Deckung, am besten hinter einem der tragenden Pfeiler des U-Bahnhofes, auf die Beruhigung der Lage, um dann sein bescheideneres Glück in Richtung Westen zu erlangen.

Morgens, an Werktagen, ist es umgekehrt: da ergießt sich der Strom von mehr oder weniger arbeitswilligen, im Schnitt nicht viel älteren Menschen über die Warschauer Brücke von Ost nach West, wohl mit der Absicht, dort ihr Geld zu verdienen. Diese Massenbewegung ist lautloser, ernsthafter und weniger ausufernd, es wäre für die vereinzelt von West nach Ost strebenden Passanten auch nahezu unmöglich, auf der Brücke in Deckung zu gehen. Ein Schelm, der nun meint, in den Osten geht’s zum Easy Living, zum Flanieren und Party-Feiern und auch zum Gentrifizieren, während in Richtung Westen das Geld hierfür verdient wird. Doch dieser Brückenbereich über Gleise und Spree hinweg, der Friedrichshain und Kreuzberg verbindet, ist etwas, was man nicht nur in der EDV eine Schnittstelle nennt, also eine Verbindung zwischen zwei Systemen, welche den mehr oder weniger schnellen Austausch gewährleisten soll. Alles, was sich zwischen den beiden, einst eigenständigen Bezirken abspielt, muss hier durch. „Es wächst zusammen, was zusammen gehört“ alá USB oder gar Fire Wire.

Die stärkere, auch augenfälligere Dynamik ereignet sich im Ostteil, also in Friedrichshain. Der noch zu DDR-Zeiten proletarisch geprägte Bezirk erfährt eine zügige, irreversible Umstrukturierung hinsichtlich seiner Bewohner. Friedrichshain gilt, neben Prenzlauer Berg, als Hochburg der Gentrifizierer, also jener edlen Leute mit dem nötigen Kleingeld, die gerne in angesagte Kieze ziehen, um ein bisschen von dem Gefühl zu geniessen, sie seien am Nabel der Welt. Der Simon-Dach-Kiez mit seiner Flaniermeile und ultimativen Gastronomisierung erscheint als Life-Style-Symbol. Autonome Trutzburgen existieren daneben wie nostalgische Reminiszenzen an vergangene besetzerbewegte Zeiten im Westen der Stadt, während eine O2-Arena sich anschickt, den zweifelhaften Rang einer städtebaulichen Ikone zu erklimmen. Schöne neue Welt?

axel w. urban

station to station XVII – die songs 1 du hast den farbfilm vergessen – nina hagen & automobil 2  russen  – lindenberg 3  me and bobby mcgee  – janis joplin 4  give peace a chance  – john lennon 5  sonderzug nach pankow  – lindenberg 6  wandersmann  – klaus renft combo 7  catch the wind  – donovan 8  das, weil ich so schön bin  – nina hagen & automobil 9  la moldau  – karajan 10 I walk the line  – johnny cash 11 It’s all over now, baby blue  – marianne faithfull 12 the times they are a changin‘  – bob dylan 13 gänselieschen  – klaus renft combo 14 die tänzerin  – ulla meinecke 15 lass uns das ding drehn  – rio reiser 16 try (just a little bit harder)  – janis joplin 17 hochzeit  – das bierbeben 18 (I can’t get no) satisfaction  – cat power 19 hurdy gurdy man  – donovan 20 mercedez benz  – janis joplin