Straßensozialarbeit begleitet Menschen bei der Bewältigung ihrer multiplen Problemlagen und zeigt Wege aus vielfach prekären Lebenssituationen zurück zu einem selbstbestimmten Dasein. In der Pandemie ist die sog. aufsuchende Sozialarbeit viel stärker als ohnehin gefragt. Viele Angebote wie z. B. Tagesaufenthalte oder Beratungsangebote für wohnungs- und obdachlose Menschen sind lediglich eingeschränkt, manche zurzeit sogar gar nicht verfügbar. Straßensozialarbeit sucht die Betroffenen vor Ort in ihren Lebensräumen auf. Wir wollten wissen, wie Streetwork in unserem Bezirk funktioniert und haben mit Zuza und Manuel vom Team Drop Out Xhain von Gangway e. V. gesprochen.
Stachel: Ihr seid als Streetworker*innen im Rahmen der aufsuchenden Sozialarbeit für Erwachsene für Gangway in Friedrichshain-Kreuzberg unterwegs. Wer bzw. was sind eure Zielgruppen? Mit was für Menschen habt ihr zu tun?
Gangway: Unsere Zielgruppe sind erwachsene Wohnungslose und von Wohnungslosigkeit bedrohte Menschen. Wir suchen Menschen im öffentlichen Raum auf, werden aber auch angeschrieben und angerufen, von Betroffenen oder Anwohnenden. Es gibt bestimmte Plätze, die wir immer wieder anfahren. Ca. 75 % der Zielgruppe sind Männer. Eine von uns geführte Statistik zeigt, dass mehr als die Hälfte unserer Klientel dem Ausland stammt. Der Anteil an EU-Bürger*innen überwiegend aus Osteuropa ist dabei mit ca. 40 % am höchsten.
Wohnungslose EU-Bürger*innen sind in der Regel Menschen, die auf der Suche nach Arbeit oder wegen eines Arbeitsversprechens nach Berlin gekommen sind, oft ohne Arbeitsvertrag und nur in einem Hostel untergebracht. Mit Beendigung der Arbeit können sie sich das Hostel nicht mehr leisten und landen buchstäblich auf der Straße. Entweder kommen sie dann z. B. aus Geldmangel ohne Unterstützung nicht zurück nach Hause oder manche wollen es auch nicht, weil sie davon ausgehen, dass es ihnen in ihrem Heimatland sogar schlechter geht, als in Deutschland auf der Straße.
Stachel: Mit welchen Problemen haben obdachlose Menschen zu kämpfen, vielleicht auch gerade unter dem Aspekt von Corona?
Gangway: Mit dem Beginn von Corona stieg sowohl die Spendenbereitschaft als auch das Engagement der Menschen. Im Frühjahr 2020 haben viele Anwohnende Menschen mit Essen versorgt und es entstanden „Gabenzäune“. Andererseits gibt es aber auch mehr Menschen, die einen großen Bogen um die Obdachlosen machen. Im 1. Lockdown gab es fast keinen Zugang zu sanitären Einrichtungen, unter anderem, weil Cafés und Restaurants geschlossen hatten. Damals hat Gangway gefordert, die Schwimmbäder vereinzelt zu öffnen, damit obdachlose Menschen sie zum Duschen nutzen können. Leider ohne Erfolg. Ähnliche Überlegungen gab es mit Sportplätzen. Hier war man nah an einer Einigung, als der Ligabetrieb wieder startete. Daraufhin zogen sich die Vereine wieder zurück. Die sozialen Einrichtungen wie Tagesstätten haben sich, dort wo es ausreichend räumliche Kapazitäten gibt, mittlerweile auf den Pandemiebetrieb eingestellt, nachdem es zu Beginn viel Unsicherheit bezüglich der erforderlichen Hygienekonzepte u. ä. gab.
Nun werden wieder immer mehr Menschen auf der Straße sichtbar, weil die Einrichtungen der Kältehilfe jetzt nach und nach schließen. Das ist im Prinzip aber jedes Jahr so: Sobald die Kältehilfeperiode endet, sind die Menschen zurück auf der Straße. Deshalb wäre es absolut wünschenswert, wenn die neu geschaffenen 24/7-Einrichtungen auch über die Kältehilfe hinaus bestehen würden.
Stachel: Mit welchen Problemen seht Ihr Euch darüber hinaus in Eurer täglichen Arbeit konfrontiert?
Gangway: Das ist sehr unterschiedlich. Das können z. B. Probleme mit Ämterstrukturen, Schulden oder Wohnungsverlust oder auch gesundheitliche Probleme sein.
Ein Beispiel: Das LABO (Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten) vergibt für alle Wochentage Termine pandemiebedingt aktuell leider nur online. Der einzige Tag, für den Termine nach Vorsprache vergeben werden, ist der Mittwoch. Hierfür müssen die Menschen sich am Dienstag anmelden. Vor der Pandemie war die Situation, dass die Menschen jeden Tag auch ohne Termin hingehen konnten. Dies erschwert die Wahrnehmung der Termine sehr, denn viele der Menschen haben einen sehr strukturierten Tagesablauf und müssen sich deshalb auf diese Termine aktiv einlassen. Das gelingt einigen nicht.
Für ausländische Bürger*innen ist oft das Problem, dass die Botschaften zwar neue Pässe ausstellen, dies aber mit Kosten von teils mehreren 100 Euro verbunden ist. Die für manche Leistungen ausreichenden, einfachen Personalausweise, die auch billiger wären, werden von den meisten Botschaften grundsätzlich nicht angefertigt.
Bürokratie ist eine immense Hürde für viele Menschen. Das gilt leider auch für die Clearingstellen. Es sind häufig zu viele verschiedene Stellen die angelaufen werden müssen, zu viele verschiedene Termine, die gemacht und dann auch eingehalten werden müssen. Deshalb brauchen die meisten der Menschen bei jedem Schritt eine Begleitung, was aber kaum zu realisieren ist. Außerdem stehen bei Behörden Obdachlose nie ganz oben auf der Agenda.
Stachel: Es gibt aber auch gute Erfahrungen und auch Erfolge, oder?
Gangway: Gut ist immer, wenn Leute nach einer Erstansprache auch zu einem späteren Zeitpunkt wieder ansprechbar sind oder auch den Kontakt von selbst suchen.
Die Menschen definieren ihren Erfolg selbst anhand ihrer Ziele – und die sind unterschiedlich. Das kann sein, einen neuen Ausweis oder vorläufigen Pass zu besorgen oder eine Unterkunft zu organisieren. Unser Job erfordert viel Geduld, denn viele Schritte brauchen sehr viel Zeit. Unsere Aufgabe ist es, die Menschen in die weiterführenden Angebote zu bringen. Im Idealfall funktioniert die Rückintegration in die Sozialsysteme in ca. 3 Wochen. Das klappt so aber nie. Die Regel ist ein halbes Jahr.
Der Zugang für Nicht-Deutsche mit Ansprüchen ist nochmal sehr viel komplizierter.
Und in den Behörden findet auch Diskriminierung statt, bewusst oder unbewusst.
Oft wird Menschen aus bestimmten Ländern pauschal unterstellt, sie würden falsche Angaben machen und daher nötige Zeugnisse wie Arbeits- oder Mietverträge nicht anerkannt. Die Sprachbarriere ist oft ein Problem. Deutschkurse werden mitunter nicht genehmigt mit der Begründung, man könne sich ja einfach einen Arbeitgeber in der Muttersprache suchen und sei dann nicht auf Sprachkenntnisse angewiesen. Die soziale Wohnhilfe genehmigt teilweise Unterkünfte nicht, obwohl darauf ein Anspruch besteht.
Stachel: Hat sich Eure Arbeit in den letzten Jahren verändert? Ist sie einfacher oder schwerer geworden?
Gangway: Mit mehr Erfahrung wird die Arbeit leichter (Manuel ist 8 Jahre als Streetworker tätig, Zuza ist seit 4 Jahren dabei. Anm. d. Redaktion). Positiv ist z. B. auch, dass viele neue Projekte dazugekommen sind, wie der Duschbus für Frauen oder das Housing First-Projekt.
Aber durch Corona gab es einen heftigen Rückschlag, weil die aufsuchende Sozialarbeit durch den Wegfall bzw. die Einschränkung stationärer Angebote deutlich mehr Aufgaben übernehmen musste und die Einzelfallarbeit mehr Raum eingenommen hat. Die Vermittlungsarbeit ist erheblich schwerer geworden.
Stachel: Was fehlt noch in der Wohnungslosenhilfe? Welche Angebote müsste es noch geben?
Gangway: Ganz klar: Es muss mehr Wohnraum für obdachlose Menschen geschaffen werden. Obdachlose werden oft als generell defizitäre Menschen gesehen, denen einfach nicht zu helfen ist. Dabei wären viele Menschen sehr wohl in der Lage, von alleine wieder Fuß zu fassen. Hierfür bräuchten sie „nur“ eine Wohnung. Ein leichterer Zugang zur Arbeitsvermittlung wäre ebenfalls gut. Viele EU-Bürger*innen wollen arbeiten; eine entsprechende Arbeitsvermittlung würde helfen.
Claudia Schulte und Magnus Heise, Bezirksverordnete
Dieses Interview erschien zuerst im Stachel, der grünen Parteizeitung für Xhain.