Eine historische Reise durch die türkischsprachigen Bestände der Berliner Bibliotheken zeigt, dass die aktuelle Bibliotheksarbeit sehr verbesserungsbedürftig ist.

Die auf die MigrantInnen ausgerichtete Bibliotheksarbeit sollte die von den Betroffenen stets angestrebte Bewahrung ihrer kulturellen Identität ernst nehmen. Nur wenn sie nicht befürchten müssen, ihre kulturelle Identität zu verlieren, werden sie offen für die Integration sein.

Nach dem Deutschen Städtetag bildet eine Stadt mit mehr als 100.000 Einwohnern eine Großstadt. Laut der Jahresstatistik der Berliner Ausländerbeauftragten lebten 2006 insgesamt 463.723 angemeldete Ausländer, darunter 116.665 Türken in Berlin. Diese Statistik berücksichtigt jedoch nicht die Menschen, die sich illegal oder halblegal, d.h. ohne polizeiliche Anmeldung, in Berlin aufhalten und deren Zahl auf mehrere Zehntausend geschätzt wird. Die in Berlin lebenden Menschen mit türkischer Herkunft bildeten demnach seit Ende der 70er Jahre eine Großstadt in der Metropole Berlin.

„Lotteriespiel“ in der AGB

Für diese „türkische Großstadt“ hat zuerst die Amerika-Gedenkbibliothek (AGB) Ende der 70er Jahre einen türkischsprachigen Bestand durch eine zweckgebundene Einmalzuweisung der Deutschen Lottogesellschaft aufgebaut. Man ging zunächst davon aus, dass einzig und allein Unterhaltungliteratur für die körperlich hart arbeitenden Menschen ohne Schulabschluss interresant sein könnte. Die erzielten Ausleihzahlen und die geäußerten Wünsche der inzwischen zu Bibliotheksnutzern gewordenen Türken nach anspruchsvollerer Literatur haben Anlass zur Ausweitung des Bestandes gegeben. Mangels muttersprachlicher Mitarbeiter war man hierzu besonders auf die ehrenamtliche Hilfe der eifrigen türkischen Leser angewiesen. Der Bestandsaufbau wurde selbst zum Lotteriespiel, jeder dieser Helfer versuchte, den Bestand nach eigenen politischen und lebensanschaulichen Vorstellungen zu beeinflussen. Ein „Türkisches Zentrallektorat“ konnte erst 1982 in der AGB eingerichtet und dadurch ein in sich abgeschlossener und universell ausgerichteter Bestand geformt werden.

Bezirksbibliotheken folgten der AGB. Unter den Bezirken spielte die Stadtbibliothek Kreuzberg die Vorreiterrolle. Die „Namık-Kemal-Bibliothek“ war eine rein türkischsprachige Bibliothek mit eigenen Räumlichkeiten und mit einem muttersprachlichen Bibliotheksangestellten. Auch wenn in den späteren Jahren dieses Konzept als „integrationshemmend“ empfunden und der Bestand mit deutschsprachigen Medien bereichert wurde, behielt diese bis heute ihren Modellcharakter bezüglich ihres Ansatzes, die kulturelle Identität der MigrantInnen zu respektieren und zu bewahren.

„Soziale Bibliotheksarbeit“ oder „Genuine Aufgabe“?

Der türkischsprachige Bestand sollte die Mitglieder einer benachteiligten Bevölkerungsgruppe mit kaum vorhandenen Deutschkenntnissen als Bibliotheksnutzer gewinnen. So fiel die bibliothekarische Versorgung der Türkinnen und Türken, zusammen mit sonstigen Randaufgaben wie z.B. Sonderdienstleistungen für sehbehinderte Menschen, Krankenhaus- und Gefängnisbibliotheken unter das Konzept ‚Soziale Bibliotheksarbeit’. Dies erwies sich als fatal. Erstens konnte ein solches Aufgabengebiet in Zeiten knapper Kassen sorglos aufgegeben oder zurückgeschraubt werden. Zweitens wurde angenommen, dass die soziale Arbeit mit der Zeit überflüssig werden würde, sobald die Türkinnen und Türken des Deutschen mächtig wären. Die anfänglich überdurchschnittliche Ausleihzahl von Medien ging wegen der inhaltlichen Veraltung des Bestandes, des geänderten Medienkonsumverhaltens, der dynamischen Entwicklung der türkischen Bevölkerung und durch das Heranwachsen der in Deutschland geborenen Generation zurück. So gaben viele Bibliotheken diese Bestände gänzlich auf oder ließen sie ausfallen. Die seit den 90er Jahren zurückgegangenen Ausleihzahlen werden als Zeichen dafür interpretiert, dass die Türkinnen und Türken nunmehr den deutschsprachigen Bestand voll in Anspruch nehmen. Die Ursache ist aber vielmehr, dass die gesuchten Inhalte in türkischer Sprache nicht vorliegen.

Die AGB und die Stadtbibliothek Kreuzberg bilden hier eine Ausnahme. Seit den 90er Jahren findet eine stetige Aktualisierung der Bestände statt. Mangelnde Deutschkenntnisse sind nicht mehr der einzige Ausgangspunkt. Der heutige Bestandsaufbau zielt auf die Pflege der türkischen Muttersprache als Voraussetzung für das Erlernen der deutschen Sprache, umfasst Übersetzungen deutscher Literatur ins Türkische als eine Brücke zwischen beiden Kulturkreisen und schließt außerdem die Unterstützung der multikulturellen Kunst- und Kulturszene mit ein. Jedoch ist die Bibliotheksarbeit in den Bezirken mit großen Bevölkerungsanteilen von MigrantInnen nach wie vor sehr verbesserungsbedürftig. Die Bibliotheksarbeit muss die Bewahrung und Bereicherung der kulturellen Identität der MigrantInnen durch aktualisierte muttersprachige Bestände anstreben. Denn Integration gelingt durch die Förderung der kulturellen Identität und Integrität der MigrantInnen.

Mehtap Söyler