Zwei Initiativen berichten aus ihrer Arbeit im Friedrichshainer Südkiez um den Boxhagener Platz: Der Friedrichshainer Südkiez, also der Bereich zwischen dem Ostkreuz, der Revaler Straße, der Warschauer Straße und der Frankfurter Allee, hat sich in den letzten 20 Jahren stark verändert. Vor allem ist der Kiez deutlich voller geworden: Es gibt durch Neubauten mehr Anwohnende, viele Tourist*innen und viele Kfz.

Zwar besitzen die meisten Anwohnenden keinen Pkw, dennoch steigt die Zahl der Durchfahrten. Hinzu kommt der zunehmende Lieferverkehr.
Außerdem ist es rund um den Boxhagener Platz vor allem abends laut. Der Bahnhof Ostkreuz wurde zwar neu gebaut, die umliegende Infrastruktur wurde jedoch nicht entsprechend weiterentwickelt.

Die Initiativen „Ostkreuz – Kiez für Alle“ (OKfA) und „Niederbarnimstraße für Alle“ (NBSfA) arbeiten eng zusammen. Beide haben Ideen, Methoden und Aktivitäten entwickelt, um auf ihre Anliegen aufmerksam zu machen und Menschen zusammenzubringen. Darunter sind Einladungen an die Nachbarschaft zu offenen Versammlungen, Befragungen, Beteiligung an Aktionen und Messungen zur Belastung. Unterstützt werden sie durch Changing Cities e.V. und KiezConnect, die stadtweit die Kiezblocks-Bewegung voranbringen. Auch das Bezirksamt, das vor allem während der Pandemie ungewöhnlich innovativ und flexibel Maßnahmen entwickelt und umgesetzt hat, ist im Kontakt mit beiden Initiativen. Detaillierte Infos finden sich auf der gemeinsamen Webseite kiez-fuer-­alle.de. Wir haben beide zum aktuellen Stand ihrer Arbeit befragt für ein Interview im Stachel.

Stachel: Wie viele seid Ihr und wann und wo trefft ihr euch?

OKfA: Ungefähr 30 Aktive kommen zu unseren monatlichen Treffen, natürlich sind nicht immer alle da. Wir treffen uns an verschiedenen Orten im Kiez. Zuletzt in den Räumen der Volkssolidarität in der Gryphiusstraße.
NBSfA: Wir sind ca. 25 aktive Anwohnende und ca. 100 Unterstützende aus Straße und Kiez, die über unsere Telegram-Gruppen informiert bleiben. Die Treffen finden jeden zweiten Mittwoch um 18:30 Uhr im Kino Intimes statt.

Was sind eure wichtigsten Anliegen?

OKfA: Wir wollen, dass der Kiez so gestaltet wird, dass es sich für alle Bewohner*innen angenehm wohnen, leben und arbeiten lässt. Dazu fordern wir Fuß- und Fahrradwege in gutem Zustand, mehr Grün, Klimaschutz, Tempolimits vor Kitas und Schulen, Verkehrsberuhigung und Lärmschutz.
NBSfA: Uns ist eine hohe Lebens- und Aufenthaltsqualität wichtig, Sicherheit für Fußgänger*innen und Radfahrende, Senkung der Lärm- und Abgasbelastung und die Berücksichtigung der Interessen und Bedürfnisse möglichst aller Anwohnenden.

Was fordert ihr konkret, was habt Ihr schon erreicht?

OKfA: Wir haben einen Einwohner*innen-Antrag erfolgreich in die BVV eingebracht, in dem unsere Forderungen zusammengefasst sind. Das Bezirksamt mit Stadträtin Annika Gerold hat daraufhin entschieden, den gesamten Bezirk in diesem Sinne verkehrsberuhigt umzugestalten. Begründung für diese Entscheidung waren u.a. die vielen Initiativen. Besonders beachtet werden sollen aber auch belastete Gebiete, die keine Unterstützung durch Aktive haben.
Die Umsetzung verläuft schleppend und liegt nach unserer Einschätzung weit hinter den Chancen, die sich für den Kiez daraus als Vorreiterbezirk für die Verkehrswende ergeben könnten. Vor allem aber ist die Umsetzung für uns nicht transparent. Im Grunde haben wir im Südkiez Friedrichshains perfekte Ausgangsbedingungen: Eine Einwohnendenschaft, die in der eindeutigen Mehrzahl die Verkehrswende unterstützt und einfordert, eine hohe Zahl von Menschen, die veränderungsoffen ist und einen wunderbaren Kiez, der in Sachen Lebensqualität unglaubliche Chancen bietet.
Ein paar kleinere Dinge sind geschehen. Es gibt nun zwar mehr Fahrradabstellplätze auf ehemaligen Parkplätzen. Aber: Wir vermissen die lange geplanten Fahrradstraßen und sichere Fahrradwege, wie sie das Mobilitätsgesetz vorschreibt.
Die Fahrradstraße in der Gärtnerstraße ist schon vor vielen Jahren zugesagt worden, aber bis heute nicht umgesetzt, nun soll sie in diesem Jahr wohl begonnen werden, wir sind gespannt. Vielfach kommen uns die Maßnahmen zu kleinteilig vor. Ein Problem liegt auch in den politischen Zuständigkeiten: der Senat und der Bezirk bremsen sich gegenseitig aus – oder spielen Verantwortungs-Pingpong. Der Bund trifft Entscheidungen gegen beide, wie etwa für die geplante Verlängerung der A100 und für die Verweigerung einer zeitgemäßen StVO-Novellierung. Ein Konzept für unseren Kiez wird uns seit langem versprochen, die Erstellung dessen oder gar die Umsetzung aber immer wieder verschoben.
NBSfA: Wir fordern exemplarisch eine deutliche Reduzierung des motorisierten Durchgangsverkehrs durch die Niederbarnimstraße, geschützte Radwege, sichere Überwege, gerechtere Verteilung des Straßenraums, Umsetzung zielführender Verkehrskonzepte in der Straße und im ganzen Kiez. Vor allem aber wollen wir die Umsetzung von günstigen und einfachen Sofortmaßnahmen wie die Einrichtung einer Einbahnstraße oder Anliegerstraße und Installation von Fahrbahnschwellen.
Erreicht haben wir konkret bisher ein Dialogdisplay, das Autofahrende an die Geschwindigkeitsbegrenzung erinnert. Das hat gegen die besonders belastenden nächtlichen Geschwindigkeiten von oft über 50 km/h nichts ausgerichtet. Immerhin konnten wir unsere Anliegen bei Einwohnerfragen in der BVV und im Verkehrsausschuss vortragen. Die Bezirksbürgermeisterin und die zuständige Stadträtin haben uns bei einer unseren Veranstaltungen besucht.

Ihr von der Initiative NBSfA habt Lärm- und Verkehrsmessungen gemacht: Warum und wie? Was ist dabei herausgekommen?

NBSfA: Wir wollten harte Fakten, keine gefühlten Wahrheiten. Was uns als Belastung vorkam, wollten wir mit anderen Belastungen vergleichen können. Wir haben dazu Kameras von Telraam installiert, die anonymisiert den Verkehr und seinen Lärm aufzeichnen. Das geht allerdings nur mit Tageslicht. Dabei kam heraus, dass mehr als 10% der Autos viel zu hohe Geschwindigkeiten haben, fast jeden Tag fahren sogar Autos mit über 70 km/h durch unsere Tempo-30-Straße, was durch das Kopfsteinpflaster sehr belastend ist. Wir können oft nur mit Ohrstöpseln schlafen. An einem üblichen Tag von 6-20 Uhr sind es etwa 3.500 motorisierte Fahrzeuge. Auch die Feinstaubbelastung überschreitet immer wieder die Grenzwerte. Links zu den Live-Kameras und allen relevanten Messdaten stehen auf unserer Webseite.

Wie geht es euch mit der bisherigen Umsetzung, welche politischen Probleme stehen der Umsetzung entgegen?

NBSfA: Wir haben immer wieder gehört, dass es nicht genügend Geld und Personal gibt. Das leuchtet uns nicht so richtig ein, denn für ein so umstrittenes Projekt wie die Friedrichstraße gibt es Gelder – für eine Straße wie die unsere, wo die Akzeptanz für Maßnahmen sehr hoch wäre, gibt es das nicht. Auch für den schon lange verkehrsberuhigten Graefekiez gibt es ein aufwendiges Projekt, bei uns praktisch nichts. Und das, obwohl mit einer Einbahnstraßenregelung, also ein paar Schildern, sofort eine erhebliche Verbesserung erreichbar wäre. Die aktuelle Ankündigung einer Umsetzung eines Kiezblocks im Friedrichshainer Südkiez mit der Erwägung einer Einbahnstraßenreglung in der Niederbarnimstraße macht uns allerdings Hoffnung.

Was macht ihr für Aktionen?

OKfA: Wir verwandeln jeden Mittwochnachmittag einen Teil der Simplonstraße in eine Spielstraße. Wir veranstalten Fahrraddemonstrationen im Rahmen der KidicalMass und als Kiez­runden sogenannte Feierabend-­Demos. Parklets betreuen wir an verschiedenen Orten und veranstalten monatlich einen Literaturtreff in der Pablo Neruda Bibliothek. Weiterhin versuchen wir immer wieder in Beteiligungsgremien wie dem Verkehrsausschuss, dem bezirklichen Klimabeirat und der BVV präsent zu sein, um unseren Anliegen Nachdruck zu verleihen. Außerdem beteiligen wir uns an Aktionen von Bündnissen, z.B. gegen die A100 und für bessere Verkehrspolitik stadtweit – denn schließlich leben wir eben nicht in einer Blase, und klimarelevante Entscheidungen betreffen uns alle.
NBSfA: Auch wir organisieren jetzt eine Spielstraße jeden Freitagnachmittag. Um unser Parklet herum haben wir Baumscheiben begrünt und eine Tauschbox eingerichtet. Außerdem gibt es dort Glühweinabende, Info­veranstaltungen und Stammtische. Auch große Straßenfeste haben wir schon veranstaltet.

Welche Tipps würdet ihr anderen Ini­tiativen geben?

OKfA: Wir empfehlen Langmut, Humor und viel miteinander zu reden. Einige Gewerbetreibende haben Sorge, sie könnten dann nicht mehr beliefert werden oder ihre die Umsätze würden zurückgehen. Einige Anwohner befürchten Bevormundung und sehen nicht die Vorteile – und offenbar auch nicht die Dringlichkeit. Diese Aspekte müssen wir im Dialog angehen, das haben wir schon in einem „Argumentativen Rollenspiel“ erprobt. Andererseits müssen Maßnahmen manchmal auch einfach umgesetzt werden, wie es z.B. Baustelleneinrichtungen zeigen: Erst gibt es Ärger, dann arrangiert man sich, oft auch für Monate oder Jahre. Und die Forschung zeigt: Verkehr wird durch die entsprechenden Maßnahmen nicht nur verlagert, sondern reduziert. Vielfach profitiert Gewerbe von der Reduzierung, ebenso wie auf Kfz angewiesene Dienste und Personen.
NBSfA: Erwartet nicht zu viel und bringt viel Geduld mit. Stellt vielfältige Kontakte her und nutzt Chancen für Aktionen wie Parklets und Spielstraßen beantragen. Dokumentiert eure Aktionen und verbreitet sie auf sozialen Netzwerken. Vernetzt euch mit anderen Initiativen. Vor allem empfehlen wir, nicht zu ernst und mit zu hohen Erwartungen an die Sache heranzugehen, sondern jeden kleinen Schritt zu feiern und den Spaß nicht zu verlieren.

Webseiten: kiez-fuer-alle.de, ­kiezblocks.de

Das Gespräch führte Andreas-M. Selignow.

Dieser Artikel erschien zuerst im Stachel, der bündnisgrünen Parteizeitung in Xhain.