DS/0047/IV

Antrag

Die Bezirksverordnetenversammlung möge beschließen:

Das Bezirksamt wird beauftragt, ein kohärentes Konzept für die Bewahrung und Archivierung, Aufarbeitung und Präsentation der facettenreichen Geschichte von Friedrichshain zu erarbeiten.

Dieses Konzept soll entstehen durch einen breit angelegten, diskursiven Prozess unter Einbeziehung aller relevanten Vereine und Initiativen, Akteure, Beteiligten und Interessierten, die sich dem Thema widmen und dazu wirken. Es soll entstehen unter Würdigung der bereits bestehenden dezentralen Strukturen der Friedrichshainer Erinnerungslandschaft und der um sie herum gebildeten Vereine und Initiativen.

Eine Bezirksamts-AG unter Beteiligung der Fraktionen der BVV soll die Grundzüge und Anforderungen dieses Gesamtkonzepts formulieren. Die AG soll das diskursive Verfahren initiieren und koordinieren, diesbezügliche Anhörungen und Veranstaltungen organisieren, deren Ergebnisse festhalten und für ihre Weiterentwicklung in der fachlichen und öffentlichen Diskussion sorgen.

Am Ende dieses Prozesses soll ein im Bezirk breit abgestimmtes Konzept mit den entsprechenden Handlungsempfehlung vorgestellt werden. Über den aktuellen Stand des Arbeitsprozesses soll unaufgefordert eine vierteljährliche Berichterstattung an die BVV erfolgen.

Begründung:

Von der Karl-Marx-Allee zur East-Side-Gallery, vom Friedhof der Märzgefallenen zur Mainzer Straße, vom Schlachthof über das Lampenviertel bis zur Oberbaumcity und zu Media-Spree reichen die Friedrichshainer historischen Koordinaten. Arbeiterbezirk und Hochburg der Kommunisten und der Sozialdemokratie, mit der Bekennenden Kirche Brennpunkt des Widerstands gegen den Nationalsozialismus, in der späten DDR Fluchtpunkt einer künstlerischen, jugendlichen Gegenkultur, nach der Wende Experimentierfeld für eine solidarische, kreative, gerechtere Gesellschaft – infolge des Bevölkerungsaustauschs seit der Wiedervereinigung und der Gentrifizierung vor allem in den vergangenen Jahren droht die Friedrichshainer Geschichte als ein zentraler und exemplarischer Ort der deutschen Geschichte „von unten“ für die nachfolgenden Generationen verloren zu gehen.

Gegen diesen Verlust, und um das geschichtliche Gedächtnis zu fördern und lebendig zu halten, haben sich zahlreiche Vereine und Initiativen gebildet, deren Einsatz und Bedeutung nicht hoch genug eingeschätzt werden kann; darunter der Paul-Singer-Verein mit seinem Engagement für den Friedhof der Märzgefallenen, das Jungend[widerstands]museum in der Galiläakirche oder der Kulturraum Zwinglikirche und seine Akteure im Rudolfkiez, um nur drei von den zahlreichen Friedrichshainer Initiativen zu nennen.

Trotz ihrer enormen Verdienste sind die Defizite der aktuellen Situation aber nicht wegzureden. Gegenwärtig haben wir es in Friedrichshain nur noch mit einer fragmentarischen Erinnerungslandschaft zu tun und es besteht die Frage, wie die vielen bereits vorhanden Engagements in einen – durchaus auch buchstäblich gemeint „begehbaren“ – Kontext gebracht werden können.

In diesem Zusammenhang stellen sich dann zahlreiche weitere Fragen, die erörtert und diskutiert werden müssen: Was soll für Friedrichshain in welchem Kanon historischer Erinnerung bewahrt und aufbereitet werden? Kann trotz der finanziell prekären bezirklichen Lage ein zentraler Erinnerungsort geschaffen werden? Ist das überhaupt gewollt? Und wenn ja, wie könnte dieser Ort aussehen, welche Inhalte würde er reflektieren und welche anderen Orte der Erinnerung würde er einbeziehen? Kurz, welche Geschichte von Friedrichshain wollen wir eigentlich dargestellt wissen?

Alle diese Fragen kann weder die BVV noch das Bezirksamt alleine beantworten. Aber BVV und Bezirksamt können einen gesellschaftlichen Verständigungsprozess darüber in Gang setzen. Diesen Prozess zu initiieren ist das Anliegen unseres Antrags. Es geht darum, eine breite Debatte herbeizuführen, in ihrem Zusammenhang alle Akteure des Friedrichshainer Gedächtnisses an einen Tisch zu bringen und mit ihnen gemeinsam und allen anderen Interessierten – durchaus kontrovers und über einen längeren Zeitraum hinweg – zu einem ebenso breit diskutierten wie abschließend breit getragenen Verständnis/Selbstverständis der Friedrichshainer Geschichte, ihrer Bewahrung und ihrer öffentlichen Darstellung zu gelangen.

Friedrichshain-Kreuzberg, den 17.01.12

B’90/Die Grünen

Frau Kristine Jaath