Mit einem „Markt der Möglichkeiten“ startete am 22. April 2023 im Kreuzberger Graefekiez ein Modellprojekt, dessen Beschluss durch die Bezirksverordnetenversammlung (BVV) Friedrichshain Kreuzberg im letzten Jahr bereits viel Aufsehen erregt hatte. In zwei Abschnitten der Böckh- und Graefestraße sollen vorerst bis Ende des Jahres mehrere Hundert private Parkplätze für Lieferzonen, Jelbi Mobilitätsstationen, Sitzflächen und Stadtgrün umgenutzt und bei Akzeptanz der Maßnahmen erweitert und dauerhaft umgesetzt werden.

Wissenschaftliche ­Begleitung

Die Auftaktveranstaltung stieß auf reges Interesse. An verschiedenen Straßenständen informierten sich Anwohner*innen über die aktuellen Pläne, machten eigene Vorschläge für mögliche Projekte bzw. trugen sich in die ausliegenden Unterstützerlisten ein. Das Projekt wird in Zusammenarbeit verschiedener Kooperationspartner durchgeführt. Das Wissenschaftszentrum Berlin (WZB), Ideengeber und Initiator des Projektes, war mit einem Informationsstand am Hohenstaufenplatz vertreten. Im Verlauf des Projektes will das WZB in mehreren repräsentativen Befragungen die Akzeptanz der Maßnahmen ermitteln. Erste Hinweise hierzu lieferte die Auftaktveranstaltung. In verschiedenen Diskussionsrunden und auf einer Pinnwand konnten Anwohner*innen Anregungen und Kritik äußern. Dabei überwogen zwar die zustimmenden Beiträge und die Freude, dass das Projekt nun endlich losgeht, es gab aber auch eine Reihe ablehnender bzw. kritischer Äußerungen. Neben einer generellen Ablehnung der Aufhebung von öffentlichen Parkplätzen und Befürchtungen vor nächtlichen Lärmbelastungen durch eine Ausweitung der „Partyzone“ auf der naheliegenden Admiralbrücke wurde vor allem die bisher unzureichende Information bemängelt.

Einige hundert Meter entfernt, auf der Kreuzung Böckh-/Ecke Graefestraße, luden der Verein paper planes und weitere Initiativen die Anwesenden dazu ein, bei der Umsetzung des Projektes mitzuwirken. Paper planes, die u.a. bereits das Radbahnprojekt unter der Hochbahn Skalitzer Straße betreuen, wird zukünftig online und bei regelmäßigen Vor-Ort-Terminen die Anregungen und Wünsche der Anwohner*innen entgegennehmen und die Maßnahmen zur Umgestaltung der ehemaligen Parkplätze, wie z.B. Entsiegelungs- und Begrünungsmaßnahmen, koordinieren. Weiterhin waren die Initiative „Zukunft Straße“ und das von der EU geförderte Projekt Compair mit Ständen vertreten. Zukunft Straße hat bereits konkrete Pläne zur Umnutzung ehemaliger Parkplätze vor drei Kitas in der Böckhstraße entwickelt. Gemeinsam mit Eltern und Kindern sollen auf den freiwerdenden Flächen sogenannte Parklets gezimmert werden, wie sie bereits heute an etlichen Berliner Straßen zu finden sind – Tische und Bänke aus Holz inmitten kleiner grüner Oasen, die zu nachbarschaftlichen Treffen einladen. Wer die Straße noch einmal aus der Sicht eines Kindes erleben wollte, konnte sich hierzu ein umgekehrtes Periskop ausleihen, welches mit Hilfe von Spiegeln das Sichtniveau auf Kindergröße herabsetzt.

Neben der Akzeptanz der Anwohner*innen sollen für die wissenschaftliche Auswertung des Projektes auch die Entwicklung der Verkehrszahlen und der Schadstoffbelastung im Kiez gemessen werden. Hierfür hat das WZB die Initiative Compair gewonnen, die gemeinsam mit interessierten Anwohnern Verkehrszählungen und Schadstoffmessungen durchführen.

Als Alternative für die Nutzung des eigenen Pkw richtet die BVG in den angrenzenden Straßen insgesamt 13 Jelbi-Stationen bzw. -Punkte ein, an denen verschiedenste Sharingdienste vom Elektroauto bis zum Lastenrad angeboten werden. Diejenigen Anwohner*innen, die weiterhin ihr Auto nutzen wollen, sollen Parkmöglichkeiten in einem Parkhaus am Herrmannplatz sowie umliegenden Tiefgaragen finden.
Die rechtlichen Voraussetzungen für das Projekt liefert die Aufhebung der privaten Parkplätze durch das bezirkliche Straßen- und Grünflächenamt, das darüber hinaus die die Einrichtung zahlreicher Lieferzonen und Stellflächen für Menschen anordnet, die auf ihr Auto angewiesen sind (wie mobilitätseingeschränkte Menschen oder ansässige Gewerbetreibende). Als ergänzende Maßnahme verfügt das Bezirksamt eine Sperre der Schönleinstraße in Höhe Hohenstaufenplatz, um unerwünschten Durchgangsverkehr vom Kottbusser Damm zur Hasenheide zu unterbinden.

Modell für eine ­​klimagerechte Mobilität

Die zuständige Stadträtin Annika Gerold erklärte in einer Stellungnahme: „Mit dem Projekt Graefekiez erproben wir gemeinsam mit der Nachbarschaft, wie Straßen der Zukunft aussehen können. Wir reagieren auf den Klimawandel und schaffen einen verbesserten Zugang zu geteilten Mobilitätsangeboten“ und betonte, Ziel sei es, mehr Sicherheit für alle Verkehrsteilnehmende zu schaffen, insbesondere für die Kinder auf ihrem Weg zu den Schulen und Kitas im Kiez.

Das Projekt konzentriert sich in der Erprobungsphase auf kürzere Abschnitte der Böckhstraße und der Graefestraße, in denen sich zahlreiche Schulen und Kitas befinden. Nach Abschluss der ersten Projektphase Ende dieses Jahres wertet das WZB die Ergebnisse aus und erarbeitet darauf aufbauend ein Verkehrs- und Frei­flächenkonzept zur weiteren Entwicklung des Kiezes. Auf Grundlage dieses Konzeptes entscheiden die Bezirksverordneten im Frühjahr nächsten Jahres über die Fortsetzung und mögliche Ausweitung des Projektes. Bei erfolgreichem Verlauf wäre damit ein Modell für eine klimagerechte Mobilität und nachhaltige Umgestaltung weiterer Wohnviertel geschaffen.

Infos: www.projekt-graefekiez.de

Gerd Thorns

Dieser Artikel erschien zuerst im Stachel, der bündnisgrünen Parteizeitung in Xhain.