Man braucht wahrlich keine rosarote Brille aufzusetzen, sondern kann nüchtern und ohne "Multikulti" -Pathos feststellen, dass die Nachkriegsgeschichte der Einwanderung nach Deutschland in weiten Teilen eine Erfolgsgeschichte war und ist. Trotz all der jahrzehntelangen Diskriminierungen und Versäumnisse, falschen Maßnahmen und der unübersehbaren Probleme.
Eine jahrzehntelang verleugnete Realität
Die Integration von Ausländern – was auch immer jeweils dafür gehalten wird – drohe zu scheitern, befinde sich mitten im Scheitern oder sei schon längst, unrettbar und ohnehin von Anfang an gescheitert. So rufen diverse Propheten und werden nicht müde auf irreversible Ghettoisierung, chaotische Schulen, Gewalt und Verwahrlosung, Parallelgesellschaften, islamistische Hassprediger, Zwangsheiraten, Ehrenmorde und andere Miss- und Notstände hinzuweisen. Was soll man ihnen erwidern, haben sie denn nicht recht? Gibt es das alles nicht wirklich in unseren Städten? Ja! Sie gibt es in der Tat. Einwanderungsgesellschaften sind und waren nie frei von Konflikten. Es wäre sinnlos und brächte keinen weiter, diese Realitäten zu leugnen. Ein Land kann nicht Millionen von Menschen als Arbeitskräfte importieren und dann über vierzig Jahre so tun, als sei dies keine Einwanderung. Aber ist dieser „Zustrom“ an Menschen (als handele es sich um ununterscheidbare Flüssigkeiten oder Partikel und nicht um menschliche Individuen) wirklich eine solche Hypothek für unser Land, mit der wir uns nur in Form verschiedener Problembewältigungsstrategien herumschlagen müssen? Deutschland sei kein Einwanderungsland war bis vor kurzem noch die ständig wiederholte Antwort derer, die heute das große Scheitern eben jener Einwanderung an die Wand malen. Eine falsche Antwort, die Gesamtheit sieht durchaus nicht so düster und hoffnungslos aus.
Ein europäischer Vergleich
Wir sind bei uns nicht mit Aufständen und bürgerkriegsähnlichen Zuständen konfrontiert wie beispielsweise unsere französischen Nachbarn und oder die Menschen in manchen englischen Städten. Ein anderes Beispiel: keiner unserer westlichen Nachbarländer wurde bei der Karikaturenkrise vor Tumulten und Aufständen verschont. In Berlin demonstrierten einige Hundert Muslime friedlich vor der dänischen Botschaft. Verglichen mit unseren Nachbarn sind unsere Probleme keineswegs gering, aber doch in einem Rahmen, der das Gesamtbild keinesfalls beherrscht.
ImmigrantInnen stärken, fördern und bereichern die Gesellschaft
Man darf doch nicht unterschlagen, auf wie vielfältige Weise die Immigration gelungen ist. Die Immigranten kamen als Arbeitskräfte und sie haben zum Wohlstand unseres Landes beigetragen, indem sie gearbeitet, produziert und Steuern gezahlt haben. Sie gründen Unternehmen von der kleinen Dönerbude bis zum Weltkonzern, sie schaffen Arbeitsplätze (allein die Zahl der UnternehmerInnen türkischer Herkunft beträgt 65.000; bei 350.000 geschaffenen Arbeitsplätzen). Sie halten oder knüpfen Kontakte mit ihren Herkunftsländern, was wiederum nur positiv auf Deutschland zurückwirken kann. Immigrantenkinder betätigen sich in allen Bereichen der Gesellschaft und sind längst Teil unseres Gemeinwesens. Für sie ist Deutschland ein Land der Chancen und Ideen und nicht eine feindliche Umwelt um irgendein Ghetto. Sie wirken als Musiker, Schauspielerinnen, Regisseure, Schriftsteller und Produzentinnen. Manche gründen sogar private Hochschulen. An den öffentlichen Hochschulen und Universitäten studieren sie nicht nur, sondern lehren und forschen auch. Sie leisten praktische Arbeit als Lehrerinnen und Sozialarbeiter, gerade auch in den sozialen Brennpunkten, an denen die Angstpropheten ihre Visionen des Untergangs festmachen. Und sie identifizieren sich mit diesem Land, was viele heute noch überraschen mag. Augenfällig wurde das zum Beispiel während der Fußball-WM im Sommer 2006, als junge Türken und Araber mit Hupkonzerten und deutschen Fahnen am Auto Erfolge der Nationalelf feierten. Diese zeigen, dass zumindest viele Immigranten allen Unkenrufen zum Trotz doch in Deutschland angekommen sind. Und dass umgekehrt Deutschland dabei ist, in der Wirklichkeit anzukommen. All diese positiven Entwicklungen sind ein Anfang. Sie zeigen eine Richtung auf und nicht ein fertiges Ergebnis, auf dem man sich ausruhen und dessen man sich sicher sein kann. Schließlich ist Integration ein dynamischer und wechselseitiger Prozess. Erfolgsgeschichten könnte man natürlich auch Geschichten des Scheiterns gegenüberstellen. Aber weder diese noch jene allein bilden die gegenwärtige Wirklichkeit hinreichend ab. Ein klarer Blick auf die Tatsachen zeigt jedoch, dass Immigration keine gesellschaftliche Bedrohung und Integration keine Unmöglichkeit ist. Stellt man dabei in Rechnung, dass jene positiven Entwicklungen trotz einer zum Teil verfehlten oder jahrzehntelang gar nicht vorhandenen Integrationspolitik Raum gegriffen haben, kann man sich vorstellen, was dann erst bei vernünftigem politischen Handeln zu erreichen wäre.
Anerkennung des Schichtenproblems
Doch gibt es nicht auch grundlegende kulturelle Unterschiede zur deutschen Mehrheitsgesellschaft hinsichtlich der Wertvorstellungen, namentlich was Muslime betrifft? Sicherlich ist darüber zu diskutieren. Voraussetzung für eine fruchtbare Diskussion ist, allerdings die Anerkennung einer einfachen Tatsache: Vieles von dem, was oft als schier unüberbrückbare kulturelle Unverträglichkeit ins Visier genommen wird, ist ein soziales Schichtenproblem und keines der Kulturen. Mittlerweile ist es ohnehin fast amtlich, dass wir in Deutschland Unterschichten haben, also schlicht arme Menschen, die ihre Armut an die nächste Generation weitervererben. Ein großer Teil der Menschen mit Immigrationshintergrund gehört zu diesen Unterschichten. Die Gründe liegen zum großen Teil an einer jahrzehntelangen verfehlten Bildungspolitik. Bildung ist für die Gesellschaft und für jeden Einzelnen eine notwendige Voraussetzung für eine gelungene Existenz und für das ankommen in der Gesellschaft. Bildungspolitik ist Integrationspolitik und hier haben wir noch viel an Reformen vor uns!
Autor: Özcan Mutlu , bildungspolitischer Sprecher Bündnis 90 / Die Grünen im Abgeordnetenhaus von Berlin www.mutlu.de