Schwerpunktthema: Integration Nazmiye Güçlü liest aus ihrer Autobiographie

Nazmiye Güçlü will provozieren, wenn sie sagt, dass sie ihre Karriere als Schriftstellerin den Schlägen und Steinigungen verdankt, die sie als gehbehindertes Mädchen erlitt. Oder wenn sie in ihrer Autobiographie wiederholt schreibt, dass ihr sexuelle Belästigung gefällt und der Muttertag abgeschaff t werden soll. Nazmiye Güçlüs Augen scheinen bei diesen Aussagen vor Genugtuung zu blitzen.

Sie liest an einem Freitagnachmittag im Sommer aus ihrer noch nicht in Deutschland erschienenen Autobiographie Araba Ald?m Kad?n Oldum – Ich kaufte ein Auto und wurde zur Frau. Die türkische Autorin schreibt bereits an einem weiteren Buch, das sie auch verfi lmen möchte. Vielleicht wird dieses Projekt leichter das Interesse Deutscher Verleger fi nden. Die Lesung im Deutschen Institut für Menschenrechte wurde von vielen Mitarbeiterinnen besucht. Simultanübersetzungen erfolgten in die Gebärdensprache und ins Deutsche.

Die Lesung präsentierte wichtige Einschnitte aus Nazmiye Güçlüs Biographie. Als erstes erklärte die Autorin den Titel des Buches: Mit 35 Jahren kauft sie sich ein Auto und wird durch die Autofensterscheibe als Frau wahrgenommen, in ihren Worten heißt es, sie hätte endlich den Unterschied von Krüppel- und Nicht-Krüppel-Sein verstanden. Eine Verständnisfrage aus dem Publikum macht deutlich, dass auch in der Türkei der Begriff des Krüppels nicht mehr üblich ist, aber zu Güclüs provokantem Stil passt. Außerdem zeigt sich das Publikum in seinen Fragen als langjährig in der Behindertenbewegung engagiert und in den neuerdings auch in Deutschland aufkommenden Disability Studies informiert.

Der zweite bedeutende Einschnitt in Güçlüs Leben ist der mit 40 Jahren aufgenommene Beruf der Journalistin und Schriftstellerin. Ihr erster Artikel, angefordert von der türkischen Zeitschrift „Radikal“, soll den Muttertag thematisieren. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit ihrer eigenen Mutter und den schwierigen Umständen von Frauen, die entweder keine Kinder haben können oder als Krüppel nicht haben dürfen oder, wie sie selbst, dennoch haben, lehnt Nazmiye Güçlü diesen „Ehrentag“ ab. Von diesem Zeitpunkt an wird sie als Schriftstellerin wahrgenommen und erhält zahlreiche Zuschriften von Menschen, die aufgrund von Behinderung, Hautfarbe oder Homosexualität diskriminiert werden. Nazmiye Güçlü wird zum Sprachrohr und appelliert an die Diskriminierten und an die Diskriminierenden, Veränderungen anzugehen. Ihren Ausführungen zufolge wird sie selbst nicht müde auf Talkshows, Festivals und Lesungen, zu denen sie eingeladenen ist, die betreff enden Organisationen auf deren strukturelle Diskriminierung von Behinderten hinzuweisen.

Anna-Lin Karl

Nazmiye Güçlü: Araba Ald?m Kad?n Oldum, Verlag Nak Kitap, Istanbul, 2004