Die bezirkliche Kultureinrichtung Ballhaus Naunystraße wurde wiedereröffnet als ein Laboratorium für junge künstlerische Talente der zweiten und dritten MigrantInnengeneration, die (ihre) Geschichte(n) im Kontext von Migration auf die Bühne bringen.

Die bezirkliche Kultureinrichtung Ballhaus Naunystraße wurde wiedereröffnet als ein Laboratorium für junge künstlerische Talente der zweiten und dritten MigrantInnengeneration, die (ihre) Geschichte(n) im Kontext von Migration auf die Bühne bringen.

Eigentlich war es in der Einwanderungsstadt Berlin, in der mehr als ein Drittel der Neugeborenen aus Familien mit Migrationshintergrund stammen, längst überfällig: Eine kommunale Kultureinrichtung, in der Geschichten erzählt werden, die in irgendeiner Weise mit Migration zu tun haben. Mit der Wiedereröffnung des Ballhauses Naunynstraße Anfang November 2008 war es dann so weit. Der vom Kulturausschuss der Bezirksverordnetenversammlung Friedrichshain-Kreuzberg formulierte politische Wille nahm endlich Gestalt an, wonach das Ballhaus in der Naunynstraße 27 in SO 36 eine Spielstätte mit „interkulturellem Schwerpunkt“ werden soll. Das bedeutet: Die bezirkliche Kultureinrichtung soll sich programmatisch und personell vor allem für neue Themen und junge künstlerische Talente der zweiten und dritten MigrantInnengeneration öffnen und ihnen ein Forum geben, auf dem sie ihre Fähigkeiten entfalten, sich erproben und entwickeln können. Denn Aufgabe von Kulturpolitik ist es, die Künste und KünstlerInnen zu fördern. Sie kann zwar nicht die Missstände sozialer Spaltung und Diskriminierung kompensieren, sie kann aber künstlerische Talente und Entwicklungen unterstützen, um die sich der etablierte Kulturbetrieb aufgrund von Borniertheiten oder ethnischer Vorurteile bislang nicht kümmerte. Neue Leiterin mit Migrationshintergrund Mit Shermin Langhoff wurde eine künstlerische Leiterin für das Ballhaus gewonnen, die aufgrund ihrer Erfahrung, ihrer konzeptionellen Vorstellungen und ihrer Verankerung in der Kulturszene die politischen Vorgaben mit Leben füllen kann. Sie ist in der Türkei geboren, wurde 1968 von ihrer Mutter, einer Arbeitsmigrantin der ersten Generation, im Alter von 9 Jahren nach Nürnberg geholt. Heute ist sie in Berlin die erste und bislang einzige künstlerische Leiterin einer bezirklichen Kultureinrichtung mit Migrationshintergrund. Am Ballhaus führt sie fort, was sie am Hebbeltheater am Ufer (HAU) mit ihrer Programmreihe „Beyond belonging – migration“ in den Jahren 2006 und 2007 begann. Migration wird hier als eine Lebensweise „jenseits von Zugehörigkeit“ verstanden. Hierüber Geschichten zu erzählen, diesen gesellschaftlichen, aber auch mentalen Zustand mit den Mitteln der Künste zu bearbeiten, vielleicht auch zu verarbeiten – das ist das inhaltliche Anliegen von Shermin Langhoff und ihrem Team. Das Ballhaus Naunynstraße wird nun vor allem ein Ort sein, an dem künstlerische Produktionen erarbeitet und präsentiert werden – und zwar in allen Kunstsparten. Da die migrantische KünstlerInnenszene bislang vor allem in der Literatur, im Film, in der Musik und im Tanz ihre Ausdrucksmittel gefunden hat, soll der Entwicklung des Sprechtheaters besondere Aufmerksamkeit zuteil werden. Dabei verfügt die künstlerische Leiterin nicht über ein festangestelltes Ensemble, sondern schöpft aus einem weitverzweigten Netzwerk von KünstlerInnen, die projektweise am Ballhaus arbeiten. Ihnen ist gemeinsam, dass sie alle gut ausgebildet sind und meist Migrationserfahrung haben. Sei es, dass sie selbst emigriert sind – wie zum Beispiel Branco Simic. Der Schauspieler und Regisseur, geboren 1968 in Bosnien, floh mit Anfang zwanzig ohne seine Familie vor den Raketen in Sarajevo nach Deutschland und studierte in Hamburg später Regie. Sei es, dass sie Kinder oder Kindeskinder von früher sogenannten „Gastarbeitern“ sind – wie etwa der Film- und Theaterregisseur Neco Celic. Er wurde 1972 in Kreuzberg als Kind türkischer ArbeitsmigrantInnen geboren. In seiner Jugend machte er als Angehöriger der berühmt-berüchtigten Streetgang „36boys“ SO 36 unsicher. Heute inszeniert er als Newcomer an den Münchner Kammerspielen und gehört zum engeren Kreis der HausregisseurInnen des Ballhaus Naunynstraße. Etliche Nachwuchs-KünstlerInnen verbindet auch die Erfahrung, dass sie aufgrund ihrer ethnischen Herkunft oder wegen ihres „fremdländischen“ Namens von ihrer deutschen Umgebung als nicht zugehörig behandelt werden. DOGLAND – junges postmigrantisches Theaterfestival startete mit Feuerwerk von sechs Premieren Das Ballhaus versteht sich als Laboratorium, eine Art „Dritter Raum“, in dem Menschen mit ihren unterschiedlichen Sichtweisen, Herkünften und Bezügen gemeinsam etwas Neues schaffen. Dass sie dabei dem herkömmlichen Geschichten- und Formenkanon des etablierten Stadt- und Staatstheaters neue Aspekte eines entgrenzten, urbanen Lebens in Deutschland aus ungewohnten Perspektiven hinzufügen können, hat das Eröffnungsfestival „DOGLAND – junges postmigrantisches Theaterfestival“ mit einem Feuerwerk von sechs Premieren gezeigt. Die Stücke handeln von Menschen, die im wörtlichen wie übertragenen Sinne draußen vor der Tür stehen: vom Leben illegalisierter Menschen in Deutschland, von sozialen, gesellschaftlichen und politischen Machtstrukturen und Tabuisierungen. Für die ästhetische Umsetzung wurden neue Formen gesucht und ausprobiert. So wurde das Publikum beim Theaterparcours „Kahvehane – turkish delight, german fright?“ durch anatolische Kaffeehäuser in Kreuzberg und Neukölln geführt. Dabei ließen die künstlerischen Interventionen in den Kaffeehäusern für das Theaterpublikum wie für die Kaffeehauskundschaft gleichermaßen einen neuen Blick zu. Das Projekt Ballhaus Naunynstraße als transkulturelles Experimentierfeld ist auf fünf Jahre befristet. Wir dürfen uns auf eine spannende Zeit freuen! Elvira Pichler, Vorsitzende des Kulturausschusses der BVV Friedrichshain-Kreuzberg

Weitere Informationen zum Programm und den KünstlerInnen siehe unter www.ballhausnaunynstrasse.de“ www.ballhausnaunynstrasse.de
Der schwierige Weg zum neuen Ballhaus Das auf fünf Jahre befristete Modell des Ballhauses Naunynstraße als transkultureller Produktions- und Präsentationsort ist allein mit bezirklichen Finanzmitteln nicht zu stemmen. Der Bezirk stellt lediglich die Immobilie zur Verfügung und finanziert die Stelle der künstlerischen Leiterin und eines Technikers. Die Stiftung Deutsche Klassenlotterie bezahlte die nötigsten Bauarbeiten im Haus. Der Berliner Senat gibt jährlich 250.000 Euro Programmmittel als Grundstock, der von der künstlerischen Leiterin jedes Jahr durch die Einwerbung von Drittmitteln in beträchtlicher Höhe ergänzt werden muss. Da der Bezirk kein Verwaltungspersonal mehr hat, um diese Finanzmittel sachgemäß zu bewirtschaften, wurde der freie Träger Kultursprünge e.V. damit beauftragt. Über das Senatsprogramm „Kulturarbeit“ erhielt das Ballhaus zehn dringend benötigte Personalstellen, ohne die der laufende Betrieb nicht aufrecht zu erhalten wäre – allerdings nur befristet auf die nächsten drei Jahre.