Xhain war schon immer Labor
Friedrichshain-Kreuzberg ist bekannt für seine rebellische Bevölkerung und das nicht erst seit den Hausbesetzungen der 70er Jahren. 1863 fanden die sogenannten “Moritzplatz-Krawalle” statt. Die Kündigung eines gegen seinen Vermieter protestierenden Mieters führte zu tagelangen Tumulten, heißt es im empfehlenswerten Buch “Mieterkämpfe – vom Kaiserreich bis heute – das Beispiel Berlin”. Das Kapitel zu den Mieter*innenkämpfen heute liest sich wie das who is who des Xhainer Stadtaktivismus.
Ob Mietenvolksentscheid, Kotti & Co, Bizim Kiez oder Bündnis Zwangsräumung verhindern oder DW enteignen, Diese eG, Eine für Alle eG, Stadtbodenstiftung, NageNetz oder das kürzlich im Rathaus Kreuzberg gegründete Netzwerk 200 Häuser: kaum eine bedeutsame Initiative in Berlin, die nicht mindestens mit einem Bein in Friedrichshain-Kreuzberg steht. Und das ist und war bitter nötig. Denn die zentrale Lage machte unseren Bezirk immer zum Spielball von “höheren Kräften”. Sei es die staatlich verordnete Kahlschlagsanierung der 70er Jahre, die dank Bürger*innenprotesten verhindert wurde, die Privatisierung von ganzen Kiezen, die nun der Deutschen Wohnen oder Fonds gehören, oder heute die Aufteilung von Mietshäusern in Eigentumswohnungen und die oft kriminellen Versuche, Menschen aus ihren Wohnungen zu kriegen, um diese teuer zu verkaufen: Xhain ist besonders betroffen von staatlichen und kapitalistischen Exzessen in Sachen Immobilienmarkt. Aber bei der Gegenwehr sind die Xhainer*innen erfinderisch. Ein Warten auf den Staat kommt nicht in Frage: die Menschen im Bezirk haben oft eigene Ideen und setzen diese tatkräftig um, sei es bei Hausprojekten, der Gestaltung von Quartieren oder des öffentlichen Raums. Die Bezirkspolitik ist darauf eingestellt und seit Werner Orlowsky hat Grüne Bezirkspolitik bewiesen, dass sie sich auch an die Spitze der Bewegung stellen kann, wenn es geboten ist. Durch immer neue Herausforderungen gibt es stetig neue Baustellen, bei denen darum gerungen wird, das Allgemeinwohl besonders zu berücksichtigen. Wenn es gut läuft entsteht ein kooperatives Ping Pong zwischen Bezirkspolitik, der Grün-Linken-Mehrheit im Bezirksparlament (BVV) und der Zivilgesellschaft.
Neue Ansprüche ans Allgemeinwohl
In der räumlichen Stadtentwicklung und der Stadtplanung sind die Ansprüche im Wandel. Hatten wir es vor rund zehn Jahren noch mit einem SPD-geführten Senat zu tun, der knallhart die Interessen der Wirtschaft durchsetzte, mit Projekten wie Media-Spree und dem Verkauf von Liegenschaften zum Höchstpreis, eröffnet uns heute der rot-rot-grüne viele Handlungsspielräume. Durch den Boom Berlins nehmen allerdings die Herausforderungen zu. Die Versorgung mit bezahlbarem Wohnraum, sozialer, kultureller und grüner Infrastruktur muss gewährleistet werden. Die öffentlichen Räume müssen komplett umgebaut werden oder zumindest neu verteilt werden, damit Verkehrswende und neue Raumnutzungen, wie Spielstraßen, Pocket Parks und Nachbarschaftsprojekte Platz finden. Die Initiativen der gemeinwohlorientierten Stadtentwicklung sind heute hoch professionell und Repräsentanten der Wünsche, Ideen und Sorgen der Menschen in den Kiezen. Sie sind es, die oft die Entwicklungen und die Verwaltung vorantreiben. Dabei können die Herausforderungen selten mit den klassischen Verwaltungszuständigkeiten angegangen werden. Die Zivilgesellschaft fordert aber von der Bezirkspolitik auch auf Probleme zu reagieren, die nicht nach aktueller Gesetzeslage, der Verwaltungspraxis oder mit dem zur Verfügung stehendem Personal steuerbar sind.
Dialog und neue Ansätze
Im Januar 2017, direkt nach meiner Amtsübernahme, hatten zahlreiche stadtpolitische Initiativen gemeinsam um einen Termin bei mir gebeten. Sie wollten besprechen, wie sie mit mir und der Verwaltung zukünftig zusammenarbeiten könnten. Aus dem Treffen ergab sich eine Reihe von Gesprächen und im Sommer wurden zwei Studien erstellt, die sich mit gemeinwohlorientierter Immobilienwirtschaft und mit den Möglichkeiten eine dauerhaften Kooperation zwischen Bezirksamt und Initiativen beschäftigten. In der Konsequenz wurde die AKS, Arbeits- und Koordinierungsstelle gemeinwohlorientierte Stadtentwicklung eingerichtet. Auch ein Ergebnis der Studien, war, dass Neubauprojekte kooperativ mit der Zivilgesellschaft umgesetzt werden sollten und es dafür einer Strategie bedürfe. Aus diesem Impuls ist die Lokalbaustrategie entstanden. AKS und Lokalbau haben nun ein Jahr gearbeitet und in den nächsten Wochen werden beide Projekte in die zweite Phase gehen. Lokalbau wird neu ausgeschrieben und für Weiterführung der AKS wird eine Zuwendung für den Trägerverein “Gemeinwohlorientierte Stadtentwicklung e.V.” vorbereitet. Unter dem Schlagwort “Baustelle Gemeinwohl” finden sich neben AKS und Lokalbau noch weitere Akteure, die eng mit dem Bezirksamt zusammenarbeiten. Die nachbarschaftliche Stadtbodenstiftung, mit dem Ziel, Immobilien dauerhaft dem Markt zu entziehen. 200 Häuser, mit dem Ziel, Umwandlungen von Mietshäusern in Eigentumswohnungen zu verhindern und wenn es passiert ist, Betroffene zu vernetzen, um gemeinsam Gegenstrategien umzusetzen. Die Eine Für Alle Genossenschaft, die Mischformen von Gewerbe und Wohnen erhalten möchte. Die Diese e.G., die Mietergenossenschaft, welche in 7 Fällen in das bezirkliche Vorkaufsrecht eingetreten ist. Weitere Projekte sind im Aufbau. Auch im Stadtentwicklungsamt gibt es nun zwei Personen, die nur für Bürger*innenbeteiligung und Vernetzung zuständig sind.
Neue Gemeinwohlbaustellen
Die “Baustelle Gemeinwohl” ist zum einen ein Netzwerk von Projekten und Akteur*innen, die sich in Kooperation mit dem Bezirksamt für bezahlbare Räume einsetzen. Jedes der Projekte hat ihre spezielle thematische Baustelle. Manche haben sich das Motto zu eigen gemacht: “aus Friedrichshain-Kreuzberg für Berlin”. Das meint, die Gründung und der Anlass liegen im Bezirk, aber die Gruppe will für ganz Berlin arbeiten. Zum anderen steht der Begriff für räumliche Baustellen, an denen sich neue gemeinwohlorientierte Strategien verorten lassen. Oft gründen sich thematische Initiativen anlässlich konkreter Baustellen vor Ort. Eine abschließende Liste würden den Rahmen hier sprengen. Wichtige Vorhaben sind unter anderem:
- Dragonerareal: Neubau eines Modellquartiers gemeinsam mit Initiativen und Nachbarschaft. Es sollen bis zu 500 Wohnungen entstehen, davon 100 für Genossenschaften und freie Träger
- Friedrichshain West: Quartiersentwicklung mit innovativen Nachverdichtungsprojekten, begleitet von einer aktiven Zivilgesellschaft. Es werden neue Infrastrukturen geplant, für soziale Zwecke, aber auch für zukunftsfähige Mobilität
- RAW-Areal: bei Neubau von Freizeit, Einzelhandel und Gewerbegebäuden werden 15.000 Quadratmeter Nutzfläche für soziokulturelle Zwecke zu bezahlbaren Mieten gesichert
- Am Hafenplatz: Zwei große Bauprojekte unter Beteiligung von landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften, die den etwas versteckten Kiez verändern, aber die angestammte Bewohnerschaft nicht verdrängen werden
- in neues Museum am Anhalter Bahnhof, das Exilmuseum
- BSR-Areal: das große Areal wo derzeit die BSR einen Werkhof hat, könnte ein Quartier mit bezahlbarem Wohnen und neuen Gewerbehöfen werden. Gerade wird eine Machbarkeitsstudie durchgeführt, die prüft, ob die BSR-Bedarfe in eine Art Keller abgedeckt werden kö Denn wir brauchen auch zentrale Standorte für die Müllentsorgungsinfrastruktur.
Öffentliche Räume neu denken in der Stadtwerkstatt
Seit Februar 2020 ist das Straßen- Grünflächenamt bei unserer Bürgermeisterin Monika Herrmann und liegt nicht mehr meiner Verantwortung. Das war nötig, denn die Aufgaben wurden immer mehr. Mit dem Wechsel werden bei mir im Stadtentwicklungsamt neue Kapazitäten geschaffen, die sich mit der Neukonzeption der Öffentlichen Räume im Bezirk befassen. Ein Masterplan Öffentlicher Raum soll ämterübergreifend entstehen und zwar gemeinsam mit der Zivilgesellschaft. Dabei wird es u.a. um die Frage gehen, wie wir in Zukunft im Öffentlichen Raum zusammenleben wollen. Oder konkret darum, welche Funktionen der bisher vom Autoverkehr dominierte Straßenraum übernehmen kann. Wenn Kieze weitestgehend autofrei werden, was erklärtes Ziel grüner Politik ist, dann haben wir ein enormes Flächenpotenzial, das unsere Kieze verändern wird. Öffentliche Räume werden verstärkt für nachhaltige Mobilität genutzt werden, aber auch durch nachbarschaftliche Nutzungen, vom schlichten Aufenthalt bis zu Tiny Houses für gemeinschaftlichen Aktivitäten ist vieles denkbar.
Ein “Design for All” (Raumgestaltung für Alle) kann aber nur unter Mitwirkung von allen entworfen werden. Es wird neue Straßenquerschnitte und Nutzungsregularien brauchen. Gemeinsam mit Initiativen wollen wir ämterübergreifend ein Stadtlabor etablieren, in dem alle Fragen rund um die anstehende Transformationen öffentlicher Räume diskutiert werden. Ein Team “Masterplan öffentlicher Raum”, in welchem auch Mitglieder von Initiativen fest vertreten sind, wird den Prozess steuern. Eine laufende Stadtwerkstatt soll u.a. auf dem Dragonerareal in einer großen Halle stattfinden und auch Initiativen, z.B. aus dem Bereich Mietenpolitik, könnten dort arbeiten. So kann ein spannender Arbeits- und Begegnungsort zwischen Zivilgesellschaft, Verwaltung und Politik entstehen. Die Frage “Wie wollen wir zusammen leben?” kann dort breit und am Beispiel konkreter Projekte diskutiert werden – wer weiß, ob dann das rebellische Friedrichshain-Kreuzberg sich mal wieder selbst neu erfindet?
Florian Schmidt, Bezirksstadtrat für Bauen, Planen und Facility Management für den Stachel 04/2020