In einer kleinen Anfrage an den Senat erkundigt sich Heidi Kosche nach der Situation von potentiell gefährlichen "Seveso II Betrieben" in Berlin.
Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Kleine Anfrage wie folgt: 1. Wie viele Betriebe, die der Richtlinie 96/82/EG und ihrer Änderung durch Richtlinie 2003/105/EG (der sog. „Seveso-II-Richtlinie“) unterliegen, befinden sich innerhalb des Berliner Stadtgebiets und um welche handelt es sich dabei?
Zu 1.: Im Land Berlin gibt es aktuell 33 Betriebe, die der Seveso-II-Richtlinie (96/82/EG) und der Störfall-Verordnung unterliegen:- 7 Tanklager (3 Betriebe in Neukölln und je ein Betrieb in Spandau, Mitte, Steglitz-Zehlendorf, Charlottenburg-Wilmersdorf)
- 7 Galvanikbetriebe (3 Betriebe in Friedrichshain-Kreuzberg, 2 Betriebe in Spandau und je ein Betrieb in Steglitz-Zehlendorf und Tempelhof-Schöneberg)
- 7 Feuerungsanlagen (2 Betriebe in Mitte und je ein Betrieb in Spandau, Steglitz-Zehlendorf, Charlottenburg-Wilmersdorf, Reinickendorf und Neukölln)
- 6 Lager für brennbare Gase oder hoch- bzw. leichtentzündliche Stoffe (2 Betriebe in Neukölln, 2 Betriebe in Reinickendorf, je ein Betrieb in Treptow-Köpenick und Spandau)
- 4 Lager für pyrotechnische Erzeugnisse (3 Betriebe in Tempelhof-Schöneberg, ein Betrieb in Pankow)
- eine Abfallbehandlungsanlage in Marzahn-Hellersdorf
- ein unterirdischer Erdgasspeicher in Charlottenburg-Wilmersdorf.
22 Betriebe sind genehmigungsbedürftige Anlagen nach dem Bundes-Immissionsschutzgesetz(BImSchG), für die die Senatsverwaltung für Gesundheit, Umwelt und Verbraucherschutz die zuständige Genehmigungs- und Überwachungsbehörde ist. Für die 7 Feuerungsanlagen (Kraftwerke, Fernheizwerke) ist das Landesamt für Arbeitsschutz, Gesundheitsschutz und technische Sicherheit Berlin (LAGetSi) die zuständige Ordnungsbehörde. Die Anlagen sind ebenfalls nach BImSchG genehmigungsbe-dürftig.
3 Galvanikbetriebe sind immissionsschutzrechtlich nicht genehmigungsbedürftig und werden von den jeweiligen Umweltämtern der Bezirke überwacht (Friedrichshain-Kreuzberg und Spandau).Der unterirdische Erdgasspeicher fällt in den Geltungsbereich des Bundesberggesetzes und befindet sich in der Zuständigkeit der Senatsverwaltung für Wirtschaft, Technologie und Frauen.
Von 33 Betrieben haben 12 Betriebe auf Grund der vorhandenen Mengen an störfallrelevanten Stoffen er-weiterte Sicherheitspflichten zu erfüllen (alle 7 Tanklager, 3 Galvanikbetriebe und der unterirdische Erdgasspeicher).
Für die übrigen 11 Betriebe gelten lediglich die Grund-pflichten.
2. Wie viele dieser sog. „Seveso-II-Betriebe“ wären zum heutigen Zeitpunkt am vorhandenen Ort nicht genehmigungsfähig und um welche handelt es sich dabei (bitte unterteilt nach Bezirken die einzelnen Betriebe und den genauen Standort auflisten)?
3. Wie viele dieser sog. „Seveso-II-Betriebe“ genießen Bestandsschutz ohne einen – gemäß der Richtlinie – ange-essenen Sicherheitsabstand zu Wohngebieten oder Naturschutzgebieten einzuhalten und um welche handelt es sich dabei (bitte unterteilt nach Bezirken die einzelnen Betriebe und den genauen Standort auflisten)?
4. Wie viele dieser sog. „Seveso-II-Betriebe“ sind mit öffentlichen sensiblen Einrichtungen benachbart, die innerhalb der „Schutzzone“ liegen und um welche Betriebe und öffentlichen Einrichtungen handelt es sich dabei (bitte unterteilt nach Bezirken die einzelnen Betriebe, den genauen Standort sowie die betroffenen Einrichtungen auflisten)?
5. Welche konkreten Sicherheitsmaßnahmen wurden in den unter Punkt 4 aufgelisteten Fällen ergriffen?
Zu 2. bis 5.: Bestehende genehmigungsbedürftige „Seveso-II-Betriebe“ haben in der Vergangenheit eine Genehmigung erhalten, die sie nach vorheriger umfassender Prüfung der störfallrechtlichen Anforderungen berechtigt, ihre Anlagen unbefristet zu betreiben. Die Betriebe genießen daher Bestandsschutz.
Alle zu 1. genannten Betriebe haben umfangreiche technische und organisatorische Maßnahmen zur Verhinderung von Störfällen und zur Begrenzung von möglichen Auswirkungen zu treffen und den Stand der Sicherheitstechnik einzuhalten. Diese Anforderungen resultieren aus der Störfall-Verordnung. Die Einhaltung der störfallrecht-lichen Anforderungen wird von den zuständigen Ordnungsbehörden, z. B. im Rahmen von Inspektionen nach § 16 der Störfall-Verordnung regelmäßig überwacht.
Das Immissionsschutzrecht sieht nicht vor, die Genehmigungsfähigkeit von Anlagen mit Bestandsschutz nachträglich zu überprüfen. Eine Standortprüfung wird daher nur im Rahmen von Änderungs- oder Neuge-nehmigungen vorgenommen.
Die zu Nr. 1 genannten Ordnungsbehörden sind für die Einhaltung der störfallrechtlichen Anforderungen zuständig, während sich das Trennungsgebot unter Berücksichtigung des angemessenen Abstandes nach § 50 BImSchG i. V. m. Art. 12 der Seveso-II-Richtlinie an die Stadtplanungsämter bzw. Bauaufsichtsbehörden richtet.
Dieser angemessene Abstand zielt auf einen bestmöglichen Schutz für die heranrückende schutzwürdige Nutzung und soll dem Betrieb auch künftig eine angemessene Entwicklung erlauben. Diesem Trennungsgebot liegt ein sehr weitreichender Vorsorgegrundsatz zu Grunde, der im Einzelfall sogar zu weiterreichenden Anforderungen führen kann, als das Störfallrecht sie vorsieht. Aufgabe der Stadtplanung bzw. der Bauaufsicht ist es, zu entscheiden, ob und ggf. unter welchen Bedingungen ein Heranrücken von schutzwürdigen Nutzungen zulässig ist. Falls bei anstehenden Planungen der angemessene Abstand unterschritten wird, kann das Stadtplanungsamt durch planungsrechtliche Mittel zusätzliche technische Maßnahmen nach Art. 12 Seveso-II-Richtlinie festsetzen, die den fehlenden angemessenen Abstand kompensieren.
Der angemessene Abstand zwischen bestehenden Betrieben und schutzwürdiger Nutzung wird durch Einzelfallgutachten ermittelt. Dies erfolgte bisher für 4 Tanklager (in Neukölln und Steglitz-Zehlendorf) sowie für 4 Galvanikbetriebe (in Friedrichshain-Kreuzberg, Steglitz-Zehlendorf und Spandau). Davon befinden sich in drei Fällen jeweils schutzwürdige Nutzungen innerhalb des ermittelten angemessenen Abstandes (ein Wohngebiet in Steglitz-Zehlendorf und zwei öffentliche, sensible Einrichtungen in Steglitz-Zehlendorf und Friedrichshain-Kreuzberg).
In zwei noch laufenden Fällen ist beabsichtigt, empfindliche Nutzungen an Galvanikbetriebe innerhalb des angemessenen Abstandes heranrücken zu lassen (in Steglitz-Zehlendorf und Spandau). Die Betreiber haben sich freiwillig bereit erklärt, über den Stand der Sicherheitstechnik hinausgehende, zusätzliche technische Maßnahmen zu übernehmen. Die Umsetzung dieser Maß-nahmen wird bauplanungsrechtlich sichergestellt.
6. Welche Informationen über entsprechende Sachverhalte wurden den betroffenen Einrichtungen zugänglich gemacht?
Zu 6.: Seveso-II-Betriebe, die die erweiterten Sicherheitspflichten zu erfüllen haben, sind nach § 11 (1) der Störfallverordnung verpflichtet, alle Personen sowie Einrichtungen mit Publikumsverkehr, die von einem Störfall betroffen sein können, über das bestehende Gefahrenpotenzial und das richtige Verhalten im Störfall zu informieren. Dies wird in der Regel in Form von Informationsbroschüren oder Flyern vorgenommen, die mindestens in Abständen von 5 Jahren an die Anlieger verteilt werden. Der Inhalt der Öffentlichkeitsinformation und der Verteilradius wird mit der zuständigen Behörde abgestimmt.
7. Welche konkreten Versuche wurden in den ver-gangenen zehn Jahren unternommen, sog. „Seveso-II-Betriebe“ umzusiedeln (bitte jeweils die Betriebe und die konkreten Angebote, die den Betreiben gemacht wurden auflisten)? In welchen konkreten Fällen und aus welchen Gründen waren die Umsiedlungsversuche ohne Erfolg?
Zu 7.: Es ist nur ein Fall bekannt, bei dem ein Umsiedlungsversuch eines Galvanikbetriebes aus dem Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg in den Bezirk Pankow von der Senatsverwaltung für Wirtschaft, Technologie und Frauen in Zusammenarbeit mit dem Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg unternommen wurde. Da der Betreiber die störfallrechtlichen Anforderungen einhält und für den Betrieb Bestandsschutz besteht, ist er nicht zu einem Umzug verpflichtet. Die Bemühungen scheiterten bisher an Vorbehalten des Anlagenbetreibers.
8. Teilt der Senat die Auffassung, dass sog. „Seveso-II-Betriebe“, die unter Bestandsschutz stehen aber den in der Richtlinie definierten Sicherheitsabstand nicht einhalten, keinen haltbaren Zustand darstellen? Falls ja, welche konkreten Maßnahmen hat der Senat bisher eingeleitet, um Abhilfe zu schaffen?
9. Falls nein, mit welcher Begründung billigt der Senat diese massive Gefährdung der AnwohnerInnen, die von diesen Betrieben ausgeht?
Zu 8. und 9.: Die Auffassung wird vom Senat nicht geteilt. Die genehmigungsbedürftigen Betriebe halten die erforderlichen technischen und organisatorischen Maßnahmen ein, die den hohen Anforderungen des Standes der Sicherheitstechnik entsprechen. Aus Sicht des Störfallrechts ist daher davon auszugehen, dass durch die Betriebe keine massive Gefährdung gegeben ist. Inwieweit ein bestehendes Nebeneinander von unverträglichen Nutzungen zu städtebaulichen Missständen führt, ist im Einzelfall von den Stadtplanungsämtern zu entscheiden. Die Senatsverwaltung für Gesundheit, Umwelt und Verbraucherschutz als zuständige Ordnungsbehörde für die „Seveso-II-Betriebe“ begleitet als Träger öffentlicher Belange die bauplanungsrechtlichen Verfahren der Stadtplanungsämter kritisch, um im Rahmen der bestehendenGesetze einen ausreichenden Schutz der Bevölkerung zu gewährleisten.
Berlin, den 12. Februar 2010
In Vertretung
Dr. Benjamin-Immanuel Hoff
Senatsverwaltung für Gesundheit,
Umwelt und Verbraucherschutz