Aus Berlin nach Europa: Anna Cavazzini (37) und Erik Marquardt (31) kandidieren auf den Plätzen 7 und 8 der grünen Liste zur Europawahl. Der Stachel hat sie zu ihren Zielen und Vorstellungen befragt.

Stachel:  Was hat euch bewogen, für das Europaparlament zu kandidieren und was sind eure politischen Schwerpunktthemen?

Anna: Ich trete vor allem mit den Themen internationale Gerechtigkeit, gerechte Handelspolitik und faire Globalisierung an. Ich habe mich bisher beruflich viel mit diesen Themen beschäftigt. Das Europaparlament ist meiner Meinung nach der Ort an dem man die Hebel in der Hand hat, um hier etwas zu bewirken. Deshalb habe ich mich entschlossen zu kandidieren.

Erik: Leider gibt es ein verzerrtes Bild vom Europäischen Parlament in der Öffentlichkeit. Dort werden massenhaft wichtige Entscheidungen getroffen und man kann viel bewegen. Daran mitzuwirken und mehr Aufmerksamkeit auf die europäische Ebene zu lenken, würde mir sehr viel Spaß machen. Besonders in meinem Schwerpunktthema Migration und Flucht muss endlich eine solidarische europäische Lösung gefunden werden. Ich war viel auf den Fluchtrouten nach Europa und in Afghanistan unterwegs und habe mich im letzten Jahr bei der Seenotrettung im Mittelmeer engagiert. Dort sterben tagtäglich Menschen, weil Differenzen in der Asylpolitik auf dem Rücken der Schwächsten ausgetragen werden. Ein unerträglicher Zustand.

Stachel: Das klingt spannend aber auch gefährlich. Hattest du Probleme dorthin zu reisen, wo du hinreisen wolltest?

Erik: Natürlich muss man sich gut vorbereiten, wenn man in Krisengebiete fährt. Aber als Fotojournalist ist es meine Aufgabe, die Komfortzone zu verlassen. Das will ich auch als Politiker fortsetzen. Auf den Rettungsschiffen war ich mehrmals Schnellbootfahrer bei Seenotrettungseinsätzen und habe von der Arbeit berichtet. Inzwischen ist es üblich, dass man mit Hass überschüttet wird und sogar Morddrohungen bekommt, wenn man sich für Geflüchtete einsetzt. Dieser rechte Mob, der vor allem im Internet aktiv ist, ist leider erfolgreich. Inzwischen scheint es vielen Verantwortlichen lieber zu sein, wenn Menschen ertrinken als dass sie lebend Europa erreichen. Wenn wir das zulassen, ertrinken im Mittelmeer nicht nur die Menschen, sondern auch die europäischen Werte. Deswegen will ich mich mit aller Kraft dafür einsetzen, dass den Rechten nicht das Feld überlassen wird.

Stachel: Anna, deine Themen haben ja auch einen starken globalen Bezug. Was stellst du dir konkret vor, was Europa in der Wirtschaftspolitik anders machen müsste, damit diese nicht zulasten der Menschen geht, die nicht in Europa leben? 

Anna: Vor allem müsste Europa seine Agrarpolitik so ausrichten, dass nicht ständig Überschüsse produziert und anschließend überall hin exportiert werden. Beispiele sind etwa tonnenweise Milchpulver, das nach Mexiko geliefert wird oder Zwiebeln, die nach Afrika exportiert werden. Das hat zur Folge, dass die Existenz unzähliger Bauernfamilien vor Ort zerstört wird. Ein anderes wichtiges Thema ist, die Unternehmen in die Verantwortung zu nehmen für ihre Produktionsketten. Zum Beispiel in der Textilindustrie gibt es dabei aktuell zu viele Gefahren für Menschen und extreme Umweltverschmutzung.

Stachel: Gehen wir mal weg von der europäische und hin zur Berliner Ebene: Hier beschäftigt die Menschen momentan besonders das Thema Wohnen und Mieten. Welche Erfahrungen habt ihr dazu gemacht?

Anna: Ich bin selbst grade davon betroffen. Ich suche eine neue Wohnung und erlebe daher, wie verrückt es in Berlin momentan zugeht was die Mietpreise betrifft. Das Thema hat aber auch eine europäische Komponente. Man kann an verschiedenen europäischen Städten sehen, dass es dort ähnliche Probleme gibt bzw. wie diese Probleme teilweise gut, teilweise schlecht angegangen werden. Deshalb kommt das Thema bezahlbarer Wohnraum auch im Wahlprogramm der europäischen Grünen vor.

Erik: Ich habe auch schon erlebt, dass ich mir eine neue Wohnung suchen musste, weil die alte zu teuer wurde. Ich finde es gut, dass zumindest in Friedrichshain-Kreuzberg jetzt politisch etwas dagegen getan wird. Letztendlich muss man sich meiner Meinung nach aber die Frage stellen, ob man das Recht auf Wohnen nicht höher bewerten sollte, als etwa geschäftliche Interessen einzelner Unternehmen.

Stachel: Was glaubt ihr, was ist momentan besonders gut an der EU und in welchem Punkt gibt es den größten Reformbedarf?

Erik: Meiner Meinung nach läuft schief in der EU, dass in vielen Punkten wirtschaftliche Interessen über intensiven Lobbyismus zu viel Einfluss auf Entscheidungsprozesse haben. Aber immer wenn wir einzelne Entscheidungen oder Strukturen kritisieren dürfen wir nicht vergessen, dass  das Projekt Europa nicht grundlegend in Frage gestellt werden sollte. Die Europäische Idee hat es verdient, dass wir sie gestalten. Wir vergessen manchmal, dass wir keine Alternative zur europäischen Zusammenarbeit haben. Kleinstaaterei wird im 21. Jahrhundert keine großen Probleme lösen.

Anna: Was auf der europäischen Ebene meiner Meinung nach zu kurz kommt ist das Soziale. Hier sperren sich die Mitgliedsstaaten dagegen, Kompetenzen nach Brüssel zu übertragen. Deswegen fordern wir Grünen auch europaweite Mindeststandards z.B. für Löhne oder Grundsicherungen. Was ich sehr gut finde ist allerdings die Freizügigkeit. Dass es heutzutage normal ist innerhalb von Europa umzuziehen oder mal in diesem, mal in jenem Land zu arbeiten.

Stachel: Vielen Dank für das  Gespräch und viel Erfolg bei der Europawahl.

Das Interview könnt Ihr auch in unserem Stachelcast hören: https://gruene-xhain.de/interview-mit-anna-cavazzini-und-erik-marquardt/

Interview: Dominik Pross für den Stachel Mai 2019