Der ehemalige Präsident der Vereinigten Staaten, Barack Obama, sagte einmal: “Wählen allein macht noch keine Demokratie”. Die Aktualität dieses Zitates könnte die Gegenwart nicht besser beschreiben. Auf dieser Seite des Atlantik hat sich eine Gemengelage etabliert, die teilweise auch selbstgemacht ist.

Claudia Zilla von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin sagte einmal während einer Debatte in der Volksbühne, man sollte die Zivilgesellschaft nicht allzu sehr in den Himmel loben. Trump, Bolsonaro und sogar Boris Johnson wurden demokratisch gewählt. Und in Deutschland ist 2017 eine rechtsextremistische Partei in den Deutschen Bundestag eingezogen. Im Gepäck: der perfide Plan das politische System zu diskreditieren, lächerlich und damit angreifbar zu machen.

In seiner letzten Rede als Bundestagspräsident sagte Norbert Lammert über den Bundestag: „Hier schlägt das Herz der Demokratie“. Doch bei der Generaldebatte am 30.9., auch als Schlagabtausch bekannt, und bei der Regierungserklärung am 29.10. zum Beschluss des Light-Lockdowns blieb die altehrwürdige Demokratie auf der Strecke. Ein paar Wochen später, am 18.11. erreichte die Partei, die vorgaukelt, eine Alternative zu sein, zunächst den Höhepunkt ihres Plans: an dem Tag, an dem das neue Infektionsschutzgesetz verabschiedet wird, gelingt Rechtsextremist*innen und Coronaleugner*innen als Gästen der AfD-Fraktion der Zugang zum Parlament. Sie bedrohen und diskreditieren Parlamentarier*innen. Die Szene, in der Wirtschaftsminister Altmaier vor dem Fahrstuhl von der bekannten Rechtsextremistin Rebecca Sommer beschimpft und handgreiflich angegangen wird, schafft einen Tiefpunkt in der Verwundbarkeit unseres Parlaments.

Vor nicht allzu langer Zeit haben Rechtsextremisten die Treppen des Reichstages gestürmt. Am 18. 11. waren sie drin. Und die Tür öffnete ihnen die AfD. Marina Weißband, ehemalige Pressesprecherin der Piratenpartei, schrieb auf ihrem Twitter Account: „Wählste Nazis ins Parlament, haste Nazis im Parlament.“

Tabubruch und Zerfall

Bei der Generaldebatte am 30.09.2020 war AfD-Fraktionsvorsitzende Alice Weidel die erste Rednerin nach der Bundeskanzlerin. In eiskalter Selbstverständlichkeit stellte sie fest: „Deutschland ist kein reiches Land mehr!“. Sie sprach über „Freiheit“ und über den „Demokratischen Zusammenhalt“. Und übte mit der gleichen Häufigkeit, mit der sie Interviews abbricht, undifferenzierte Kritik am Haushaltsentwurf 2021. Die Energiewende, die von renommierten Wissenschaftler*innen als unabdingbar eingestuft worden ist, stempelte sie als eine „Elektroauto-Planwirtschaft“ der Bundesregierung ab.

Die AfD lässt keine Gelegenheit aus, der Bundeskanzlerin ihre Vergangenheit als DDR-Bürgerin vorzuhalten. Später am Tage wird Alexander Gauland seiner Partei treu und attackiert Merkel weit unter der Gürtellinie. Mit keinem Wort erwähnt der CDU-Aussteiger und Trendsetter der Krawatten die Aspekte der sanitären Katastrophe im Zusammenhang mit der Covid19-Pandemie. Vier Wochen später vergleicht er an gleicher Stelle die an Covid19-Verstorbenen mit denen, die durch einen Verkehrsunfall ihr Leben lassen mussten: „Es gibt eine einfache Lösung, die Zahl der Verkehrsunfalltoten auf Null zu senken. Man schafft den Straßenverkehr ab”.

Die Polarisierung der Gesellschaft mittels Tabubrüchen hat bei der AfD System, wurde zur Normalität und veränderte zusehends die Streitkultur im Parlament. Die galoppierende Politikverdrossenheit der Gesellschaft ist ein willkommener Nährboden der AfD. Eine Partei, bei der ein Mitglied ganz legal und juristisch wasserdicht als Faschist bezeichnet werden darf, präsentiert sich als Wächterin über Demokratie und Grundrechte. Sie erhebt den Anspruch, darüber urteilen zu dürfen was auf den Müllhaufen der Geschichte gehört und was nicht.

Eine Gruppe von weißen Männern mit ausgeprägtem Geltungsdrang will gemeinsam mit einer adligen, die ihrer rechts-konservativen Familientradition treu bleibt, den Systemwechsel herbeiführen. Die Herzogin von Oldenburg, Beatrix von Storch, ist immer eine der ersten, die im Plenarsaal ankommt – eine Art Cheerleaderin der AfD und das beste Ventil für deren Hassdiskurs. Gemeinsam mit ihren männlichen Kollegen will sie den Systemwechsel herbeiführen. Graf Schwerin von Krosigk, von Storchs Großvater, diente dem Führer und war als Reichsminister einer der Unterschreiber des Ermächtigungsgesetzes von 1933. Im Nürnberger Prozess saß er auf der Anklagebank. Von Storch ist nicht nur der Beweis über den Verfall des deutschen Adels. Sie ist eine gefährliche geistige Brandstifterin. Frau Storchs Formulierung in einer Debatte im November 2019, belegt dies: „Das liegt wie Krematoriums-Asche über diesem Haushalt“. Und brachte damit den Sozialdemokraten Johannes Kahrs zur Weißglut.

Der britische Sänger Sting hat uns gelehrt: “History will teach us nothing”.

Erschreckende Normalität

Beständige Desinformationen und falsche Behauptungen der AfD werden nicht nur weitestgehend geduldet, sondern sind in der hiesigen Medienlandschaft zur Normalität geworden. Die anfängliche Fragestellung, ob ihre Mitglieder zu Talkshows einzuladen oder außen vor zu lassen sind, ist passé. Es geht um einen Tabubruch in den Medien und in den sozialen Netzwerken. Doch besonders gravierend und hervorstechend ist dies im Parlament zu beobachten: Alice Weidel diskreditierte am Tag der Regierungserklärung namentlich das gesamte Kabinett Merkel. In Richtung Heiko Maas stichelte sie: „Ein blasser und kaum wahrnehmbarer Außenminister, der Islamisten hofiert und sogar in seinem Haus beschäftigt“. Der Kanzlerin warf sie vor „den Rechtsbruch zum politischen Prinzip“ gemacht zu haben, und behauptete Deutschland sei in Europa „zunehmend isoliert“. Das Eingreifen des Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble ließ viel zu lange auf sich warten. Seine Rhetorik ähnelte der eines Grundschullehrers und zeigte dabei nur mäßigen Erfolg.

Der Sprachgebrauch und die Verzerrung der Realität sind die Werkzeuge der Rechtsextremisten: „Je schlechter es Deutschland geht, desto besser für AfD“, sagte einmal Christian Lütt, deren ehemaliger Pressesprecher im Gespräch mit einer YouTuberin. Die Inszenierung der Männerpartei startet schon frühzeitig, weit bevor die Debatten oder Ansprachen beginnen. Vorher kratzen sich die Herren am Bauch, lachen laut, machen den Macker. Geführt von Klassenstreberin Frau von Storch, bringen sie sich im gegenseitigen Schulterklopfen auf Betriebstemperatur. Wenn die Uhr auf 9 zeigt, legen sie los.

Es gab noch Zeiten, in denen Norbert Lammert, der überzeugte Europäer, durch brillante Rhetorik und messerscharfe Ironie die altehrwürdige Demokratie bravourös verteidigte. Seine Rüge für Erika Steinbach ist bereits legendär. Es gibt aber auch andere Möglichkeiten das parlamentarische Spielfeld für Rechtsextremisten zu verkleinern: Die Grünen Abgeordnete Canan Bayram machte es vor. Gefragt, ob sie eine Zwischenfrage der AfD zulässt, antwortete sie: „Nur von Frauen“.

Ob Generaldebatte, Regierungserklärung oder am Tag der Abstimmung über das neue Infektionsschutzgesetz: die AfD gibt sich als Sprachrohr der sogenannten „besorgten Bürger“. Am 18.11.20 überstieg sie den Rubikon: auf ihre Einladung hin konnten Rechtsextremisten und Coronaleugner*innen in das Parlament eindringen und Parlamentarier*innen bedrohen und diskreditieren. Währenddessen hielten Abgeordnete der AfD auf ihren Sitzen ein Plakat mit schwarzem Band, welches den Tod des Grundgesetzes ankündigte.

Das Zitat, das dem Theologen und Philosophen Theodor W. Adorno zugeschrieben wird, behält in einem tief gespaltenen Land, welches sich dem Anschein nach an das Wirken dieser Partei gewöhnt hat, erschreckende Aktualität: „Ich fürchte nicht die Rückkehr der Faschisten in der Maske der Faschisten, sondern die Rückkehr der Faschisten in der Maske der Demokraten.“

 

Fátima Lacerda für den Stachel Dezember 2020