Özcan Mutlu zu den Sarrazin-Äußerungen

Angeblich überfordert uns das Nebeneinander von Menschen verschiedener Herkunft seit jeher und ganz besonders jetzt. Die sprachliche, wirtschaftliche, soziale und politische Integration sei gescheitert. Das politisch korrekte Gutmenschengerede von „Multikulti“ sei zugunsten einer realistischen Betrachtungsweise einzustellen. Niemand bestreitet, dass es Probleme gibt, im Gegenteil – es gibt viele! Integration ist eben ein wechselseitiger Prozess und kein fortwährendes Straßenfest. Für dessen Gelingen sind wir letztendlich alle gemeinsam verantwortlich. Ich gestehe: Wir sind noch lange nicht so weit, wie wir sein müssten. Aber trotz der vielen Mahnungen ist Berlin der Beweis dafür, dass dort, wo es viel Schatten gibt, auch viel Licht anzutreffen ist! Mit Verlaub, das ist kein Verdienst der Politik, sondern der Berlinerinnen und Berliner, egal woher die Eltern oder Großeltern jeweils kommen.

Nun kommt der ehemalige Berliner Finanzsenator, der acht Jahre die Finanzgeschicke dieser Stadt geleitet hat und für viele Streichungen und Kürzungen, vor allem im Jugend- und Bildungsbereich, verantwortlich ist, daher und lässt sich nicht nur über MigrantInnen aus, die ein fester Bestandteil dieser Einwanderungsstadt sind, sondern bedient sich rassistischer Klischees und schürt Angst und Ressentiments. Traurig, dass viele in ihm den Überbringer der schlechten Nachrichten sehen, der sich in der Wortwahl vergriffen hätte. Dabei sind seine rassistischen Sprüche keine Ausrutscher, sondern zeigen welch Geistes Kind er ist.

Sarrazin und seinesgleichen wird es immer wieder geben. Aber Berlin bleibt Berlin, vielfältig, bunt, reich an Kulturen und verschiedenen Lebensentwürfen. Vielleicht liebe ich diese Stadt, weil sie so viele Widersprüche in sich vereint und zugleich kulturell so reich und vielfältig ist. Ich liebe diese Stadt, weil bei jeder Fussball-WM das Bekenntnis zu Deutschland, in den Farben der deutschen Demokratie im Fahrtwind junger Berliner Türken mitflattert. Dieser Fahrtwind bläst freilich kein einziges der Integrationsprobleme weg, denen sich Politik und Gesellschaft, Mehrheitskultur und Einwanderer-Community zu stellen haben. Doch er ist immerhin ein Hinweis, dass integrationspolitisch in diesem Land Windstille nur für jene herrscht, die schon immer alle Fenster und Türen von innen verrammelt haben.

Ich mag die Berliner Schnauze und die Currywurst als Berliner Wahrzeichen, wie ich auch den Döner-Kebab mag, der zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor unserer Stadt gehört. Berlin wäre im wörtlichen Sinne arm dran ohne die Wirtschaftsleistung all der Immigranten und ihrer Kinder und Enkel, erst als „Gastarbeiter“ in der Industrie und später dann auch als Gewerbetreibende und Unternehmer in allen möglichen Branchen. Berlin zählt allein 6.000 türkischstämmige UnternehmerInnen unterschiedlichster Größe, die nahezu 25.000 Jobs geschaffen haben, nicht nur in Dönerimbissen oder im Obsthandel – und wenn schon, was wäre daran auszusetzen? Immigration bedeutet auch vielfältigste kulturelle Impulse, wie es uns der Filmemacher Fatih Akin oder die Schriftstellerin Hatice Akyün oder im Sport der Fußballvirtuose Mesut Özil und viele andere mit Bindestrich-Identitäten tagtäglich zeigen.

Ich liebe die wilde Berliner Mischung und die Chancen, die sich daraus ergeben. Es macht mir Spaß, beim libanesischen Bäcker nebenan leckere Croissants zu kaufen und beim vietnamesischen Kiosk einen Cappuccino zu schlürfen. Nur in Berlin und bei Blumen-Dilek kann ich zu jeder Tageszeit frische Tulpen aus Holland für meine Frau besorgen oder bei Smyrna leckere Hülsenfrüchte aus Israel kaufen. Es ist mir immer eine Freude, nach jeder Ankunft in Tegel von einem netten Taxifahrer mit Migrationshintergrund begrüßt zu werden und auf dem Weg nach hause auf den aktuellsten Stand gebracht zu werden. Es macht mir Spaß meine amerikanischen Freunde nach „Klein-Istanbul“ zu führen, damit sie im Hasir-Restaurant die Vorzüge der türkischen Küche erleben können. Ich genieße es jedes Mal, im Ballhaus Naunynstraße der melancholischen Stimme von Mario Rispo zu lauschen, der als Italo-Deutscher in akzentfreiem Türkisch von unerfüllter Liebe am Bosporus singt. Das ist mein Berlin und ich liebe es, sollen Rassisten a la Sarrazin sagen, was sie wollen!

Özcan Mutlu, Mitglied des Abgeordnetenhauses