Berlin steht vor der größten Schulreform seit dem Zweiten Weltkrieg. Bildungssenator Jürgen Zöllner (SPD) will Sekundarschulen statt Haupt- und Realschulen, macht aber kaum klare Ansagen – weder über geplante Klassenstärken noch Schulschließungen. Trotzdem will der rot-rote Senat Vorentscheidungen, obwohl das Gesetz noch nicht mal verabschiedet ist

Es ist ein bisschen wie bei Hase und Igel: in der rot-roten Koalition versucht jeder für sich das Thema Bildung maßgeblich zu besetzen. Wer wird sich also mit seinem Ansatz durchsetzen? Die Linkspartei mit der Gemeinschaftsschule oder die SPD mit der Sekundarschule?   Eigentlich fing alles ganz gut an. Eine Schule für alle Kinder – so die Grundidee der Gemeinschaftsschule. Belegbar sind die guten Erfolge dieses Ansatzes, in vielen Ländern der Bundesrepublik und Europas. Alle Kinder sollen bis zur zehnten Klassen gemeinsam lernen und im Idealfall am selben Schulstandort auch ihr Abitur machen können. Die Kinder werden individuell so gefördert, dass sie ihr ganzes Potenzial optimal auszuschöpfen können. Ganztagsbetrieb und innovative Freizeitbereiche ergänzen den pädagogischen Ansatz. Es wurden 22 Millionen Euro in die Hand genommen. Für notwendige Raumangebote, Beratungsleistungen und Fortbildungsangebote für die PädagogInnen, die nach diesem in Berlin relativ neuen Konzept arbeiten werden.

Erst Hauptschule, dann Abitur auf zweitem Bildungsweg

  Die Gemeinschaftsschule soll das mehrgliedrige Schulsystem ablösen. Denn die Erfahrungen zeigen uns, dass wir zu viele Kinder haben, die es nicht bis zum Abitur schaffen, obwohl sie das Potenzial hätten, weil wir sie zu früh ausgliedern und selektieren. Dies gilt auch für Kinder aus der Einwanderungsgesellschaft. Viele MigrantInnen, die ein erfolgreiches Studium abgeschlossen haben, gehen mit einer Hauptschulempfehlung von der Grundschule ab und müssen mühsam über den zweiten Bildungsweg ihre Hochschulreife erlangen – Kompetenzpotenzial, was nicht rechtzeitig erkannt und gefördert wird, was uns dadurch Zeit und Geld kostet.

Wenn also Kinder von der ersten bis zur zehnten Klasse gemeinsam lernen, dann wissen wir, dass diese Kinder jeweils optimaler gefördert werden können. Dies gilt auch für die Kinder aus dem sogenannten deutschen Bildungsbürgertum. Hier zu meinen, diese Kinder würden ihr Potential nur in Gymnasien entfalten können, zeugt von wenig Erfahrung mit der Realität. Alle Kinder profitieren von dieser Schulform – dies ist auch in Berlin nicht anders! Und wir sind nicht nur bildungspolitisch auf diese Reform angewiesen, sondern auch volkswirtschaftlich. Wenn wir zukünftig nicht in der Lage sind, alle Kinder erfolgreich durch unser Bildungssystem mitzunehmen, wird das Sozialsystem kollabieren.   Kaum machten sich die ersten Schulen auf den Weg, eine der Berliner Gemeinschaftsschulen zu werden und kaum, dass der Eindruck entstand, dies könnte tatsächlich mal ein vielversprechender Weg zur erforderlichen Schulreform sein, kam der SPD-Bildungssenator Jürgen Zöllner mit einer neuen Idee: der Regionalschule, die inzwischen Sekundarschule heißt. Es gibt dafür keinen nachvollziehbaren Grund – das Konzept ist nicht zielführender oder gar besser – die einzige Erklärung sind die Wahlkämpfe 2009 und 2011. Die SPD will mit dem Thema Bildung 2011 die Wahl gewinnen…  

Wie steht´s um die Sekundarschulen?

  Zöllner hatte gerade ein erstes grobes Papier über seine Schulreform veröffentlicht, als auch schon die ersten Treffen mit den Bezirken stattfanden, um die Kosten zu ergründen. Schnell wurde klar, es soll alles im kleinstmöglichen Kostenrahmen umgesetzt werden. Der Senat rechnet in Friedrichshain-Kreuzberg mit sinkenden SchülerInnenzahlen. Fakt ist: Wir sind Babyboombezirk – unsere Kinderzahlen steigen nachweislich, exorbitant in Friedrichshain, aber auch in Kreuzberg. Der Senat rechnet mit drei (!) verschiedenen Klassenfrequenzen, also der maximalen Anzahl von Kindern in einer Klasse. Mit 25 Kindern für das erforderliche Raumprogramm, das aussagt, wie viel Geld der Bezirk für die Schulräume ausgeben soll. Mit 27 Kindern, die tatsächlich in einer Klasse sein werden und mit 29 Kindern zur Berechnung des LehrerInnenschlüssels. Die Folgen: zu kleine und zu wenig Schulräume, zu viele Kinder in einer Klasse und zu wenig PädagogInnen.

Die angeblich sinkenden Kinderzahlen würden außerdem bedeuten, dass der Bezirk zu viele Schulen hätte. Hierzu kommt der Senats-Grundsatz ins Spiel, dass bei Sekundarschulen jede Jahrgangsstufe mindestens vier Klassen haben muss. Die Folge wäre, dass der Bezirk weder Argumente noch Geld bekommt, um zwei- oder dreizügige Schulen zu erhalten. Das inhaltliche Konzept dieser kleinen Oberschulen spielt dabei überhaupt keine Rolle, nur die Größe der Schulgebäude zählt!

Erst auf Proteste von Schulen, Eltern und StadträtInnen reagierte der Senat und erlaubt begründete Ausnahmen von der Vier-Klassen-Regel. Was heißt das? Dies weiß bisher niemand. Bisher wurde die Vorgabe für diese großen Schulen damit begründet, dass das pädagogische Konzept der Sekundarschule anders nicht umzusetzen sei. Zudem sei damit auch die Zielstellung nicht umsetzbar, dass alle Kinder erfolgreich mitgenommen werden können. Wenn Ausnahmen möglich sind, dann unter welchen Bedingungen? Keine Antwort zurzeit. Leider. Denn auch bei uns im Bezirk haben wir Schulen, die eigentlich aus Zöllners Vier-Klassen-Regel fallen: die Zelter-Hauptschule ist etwa zwei-zügig und die Borsig-Realschule liegt bei zirka 3,5 Klassen pro Jahrgang. Wenn vier-zügig so wichtig ist – warum geht dann plötzlich auch zwei-zügig? Ebenfalls keine Antwort.

Trotzdem soll der Bezirk bereits jetzt Schulgebäude melden, die geschlossen werden sollen. Wieso eigentlich? Ob kleine oder große Schule ist nicht entschieden! Wie was und warum in den Schulen geschehen soll und wie viel Klassenräume wir tatsächlich benötigen – noch nicht bekannt. Und das Abgeordnetenhaus hat noch nicht einmal entschieden, ob wir in Berlin überhaupt Sekundarschulen einführen werden. Also, ob diese Schulreform überhaupt kommt. Oder nicht doch lieber die – wesentlich besser durchdachten – Gemeinschaftsschulen weiter ausbauen sollten. Ein ausgereiftes Konzept sieht anders aus!!!

Fehlendes Konzept- hohe Kosten für Schulumbauten

  Trotzdem sind die Kosten der Reform enorm: Die Senatsbildungsverwaltung errechnete zunächst rund 90 Millionen Euro. Doch dann kam das zweite Konjunkturprogramm des Bundes (K II). Pro Bezirk wurden im Grundstock 10 Millionen Euro für Schulsanierungen bestimmt und dann noch eine Summe X entsprechend eines komplizierten Sozialfaktors – nochmal etwa drei Millionen Euro für Friedrichshain-Kreuzberg. Nach den Auflagen des Senats darf das Geld nur für Sekundarschulen verwendet werden. Sanierungsbedürftige Grundschulen fallen raus, auch wenn sie noch so schlechte Bausubstanz haben. Das heißt, die SPD setzt mit den K II-Mittel lediglich das um, was sie eh umsetzen wollten. Sie fasst für die Reform bisher keinen einzigen zusätzlichen Euro an, sondern verteilt die Bundesmittel. Glück gehabt SPD!   Aber kein Glück für Eltern und Kinder! Denn noch völlig offen ist, WIE das inhaltliche Konzept der Bildungsreform aussehen soll? Wir kennen lediglich Absichtserklärungen: Abschaffung der Hauptschulen, Erhalt der Gymnasien – alle Kinder sollen Bildungserfolge haben, die Gemeinschaftsschulen soll es auch noch geben. Planlos stochern Zöllner und seine Verwaltung mit der Stange im Nebel.   Die Gemeinschaftsschule ist im Grundsatz angelegt auf ein eingliedriges Schulsystem, in dem alle Kinder von Anfang an gemeinsam lernen, unterstützt durch individuelle Förderung. Die jetzt geplante Sekundarschule soll erst nach der Grundschule beginnen – kein innovativer Ansatz. Insgesamt werden hier Haupt- und Realschulen zu den Sekundarschulen zusammengefasst. Ob diese Schulen über eine eigene Oberstufe zum Abitur führen, ist eher unwahrscheinlich. Denn Zöllner hält mit seinem zögerlichen Reförmchen am Prinzip der Gymnasien fest.   Wieso sollten Eltern also ihre Kinder an einer Sekundarschule anmelden? Ich kann im Moment diese Frage nicht beantworten. Da das Konzept und somit auch gleich das Schulgesetzt erst erarbeitet werden, können wir bisher im Bezirk nicht einmal darüber miteinander diskutieren. Fazit: Ein Schultypen-Chaos rollt auf uns zu. Wir werden alle Hände voll zu tun haben, um neue „Restschulen“ zu verhindern.   Wahlkampf auf Kosten unserer Kinder ist jedenfalls der schlechteste Motor für eine echte Bildungsreform in Berlin – mal sehen, wer Hase und wer Igel im rot-roten Senat ist und mal sehen, wer sich durchsetzt.   Für unseren Bezirk wären jedenfalls mehr Gemeinschaftsschulen der beste Weg: Gemeinsames Lernen von der ersten Klasse bis zum Abitur – und mit enger verbindlicher Zusammenarbeit mit Kitas und Familienzentren. Damit würden alle unsere Kinder eine gute, ganzheitliche Förderung bekommen – darüber sollten wir miteinander diskutieren und auch streiten.     Monika Herrmann, grüne Stadträtin für Jugend, Familie und Schule