Seit einigen Wochen wird über die Kündigung einer Aldi-Filiale in der Markthalle IX in Kreuzberg diskutiert. Doch dabei geht es eigentlich um viel mehr, als um nur um die Zukunft eines Supermarktes.

Die Debatten der letzten Wochen verdeutlichen einmal mehr, wie angespannt die Situation in unseren Kiezen ist. Die Angst und die Erfahrungen, die Veränderungen in der Nachbarschaft nicht mehr beeinflussen zu können und nicht mehr Teil dieser zu sein, sind im ganzen Bezirk immer stärker zu spüren – ganz unabhängig von der Diskussion um die Markthalle IX. Die Frage, wem die Stadt gehört, wird allzu häufig nur noch über den Geldbeutel bestimmt. Das erleben viele Menschen jeden Tag, wenn überteuerte Modernisierungsankündigungen oder Eigenbedarfskündigungen ins Haus flattern. Auf den ersten Blick mutet es daher mehr als absurd an, dass die Kündigung des Aldi-Supermarktes zugunsten eines dm-Drogeriemarktes dafür ein Sinnbild sein soll. Das Großunternehmen Aldi ist der nach Bruttoumsatz weltweit erfolgreichste Discounter-Konzern und die Eigentümer gehören zu den reichsten Menschen des Landes. Ein Unternehmen, dass laut der Gewerkschaft ver.di systematisch versucht, unabhängige Mitarbeitervertretungen zu verhindern. Immer wieder werden dem Großkonzern Arbeitsrechtsverletzungen vorgeworfen und Aldi nutzt seit vielen Jahren rücksichtslos seine Marktmacht, um die Preise für Bauern existenzbedrohend zu drücken. Gleichzeitig ist die Debatte aber nicht schwarz-weiß, es geht mit Nichten nur um Aldi als Konzern oder nur um die Frage, wie eine andere Lebensmittelproduktion aussehen muss. Es geht auch um die Angebote in der Halle und wer sich diese leisten kann. Zahlen des Bezirksamtes zeigen, dass ein Viertel der Anwohner*innen im Kiez Transferleistungen beziehen.

Vision und Realität

Als 2010 im Zuge der falschen Ausverkaufspolitik vom rot-roten Senat die Markthalle IX meistbietend und ohne Vorgaben an Investoren verkauft und in einen großen Supermarkt umgebaut werden sollte, konnte dies nicht zuletzt wegen dem Engagement in der Nachbarschaft verhindert werden. Zwar blieb es bei einer Privatisierung, es kam aber zu einem der ersten Konzeptverfahren durch das Land Berlin. Den Zuschlag vom Land bekamen damals die aktuellen Betreiber. Ziel war es, die Markthalle IX für den Kiez zu öffnen und die benötigten Bedarfe abzubilden. Es sollte eine Halle für alle geschaffen werden. Für die Betreiber gehören dazu ebenso die Produzenten, die sich der Ernährungswende widmen. Die Markthalle hat zahlreiche neue Gründungen von kleinen Betrieben und lokalem Handwerk ermöglicht. Eine Halle für alle heißt aber unbedingt auch, dass die Markthalle ein nachbarschaftlicher Treffpunkt sein muss – möglichst an allen Tagen und für alle Menschen im Kiez, unabhängig vom Einkommen. Viele Anwohnenden sagen, dass im Moment Aldi für sie das darstellt und ihnen Angebote fehlen. Im Moment zieht die Markthalle am Wochenende und zu Events Besuchermassen an, dazu Lieferverkehr und Lärm. Unter der Woche gibt es derweil nur wenige Stände und Einkaufsmöglichkeiten. Auch das ist Teil der Anfang April zwischen allen beteiligten Akteuren gestarteten Gesprächsrunden.

Solidarische Konzepte

Die Ernährungswende kann nur gelingen, wenn sie gesellschaftlich ausgehandelt wird und mit sozialer Gerechtigkeit einhergeht. Bisher ist Bio für alle noch eine Utopie, die für zu viele Menschen zu teuer ist. Das zu ändern ist die große Herausforderung – nicht nur für die Markthalle, sondern für die gesamte Gesellschaft. Erste Schritte vor Ort könnten Rabatte an den Ständen für Menschen mit weniger Geld sein, wie sie teils auch schon umgesetzt werden. Auch solidarische Konzepte, die sich an französischen und US-amerikanischen Co-ops orientieren, könnten weitere Ansätze sein. Es müssen jetzt gemeinsam Änderungen in der Markthalle auf den Weg gebracht werden. Auch wenn es nicht einfach wird, der Diskurs dazu läuft und ist nötig.

 

Julian Schwarze, Bezirksverordneter und Aida Baghernejad, Geschäftsführender Ausschuss für den Stachel Mai 2019