Ein inklusives Bildungssystem ist eine grundlegende Voraussetzung für eine gerechte Gesellschaft. Doch in Berlin, und leider auch in Friedrichshain-Kreuzberg, erleben viele Familien mit Kindern mit Behinderungen, dass dieses Versprechen nicht eingelöst wird. Besonders eklatant zeigt sich dies in der Beförderung der Kinder zu Schulen und Ferienhorten. Was eine unterstützende Maßnahme zur Teilhabe sein sollte, wird für viele betroffene Familien zum bürokratischen Spießrutenlauf – mit gravierenden Folgen für alle Familienmitglieder.
Berücksichtigung individueller Bedarfe? Fehlanzeige!
Ein zentrales Problem liegt in der Intransparenz und Unzugänglichkeit der Bewilligungspraxis. Kinder, die aufgrund der Schwere ihrer Behinderung auf einen Einzeltransport angewiesen sind – etwa aus Gründen der Reizüberflutung, Anfallsrisiken oder starker Mobilitätseinschränkungen – bekommen diesen oft nicht bewilligt. Stattdessen werden sie in Sammeltransporten untergebracht, die ihre individuellen Bedarfe nicht berücksichtigen. Dies ist nicht nur eine Missachtung der UN-Behindertenrechtskonvention, sondern stellt eine unmittelbare Gefährdung des Kindeswohls dar.
Auch bei getrenntlebenden Eltern stoßen Familien auf massive Hürden. Flexible Abhol- und Bringorte, die den Alltag dieser Familien abbilden, sind nicht vorgesehen. Eine Änderung des Abholortes – etwa, wenn das Kind am Wochenende beim anderen Elternteil war – ist nicht möglich. Diese Praxis ignoriert die Lebensrealitäten vieler Patchwork-Familien.
Fehlende Aufklärung verschärft Ungleichheit
Doch besonders diskriminierend stellt sich die Situation in den Schulferien dar. Grundsätzlich stehen auch für Kinder mit Behinderungen die Angebote der Ferienhorte zur Verfügung. Damit wird soziale Teilhabe ermöglicht, Familien werden entlastet und Eltern die Erwerbstätigkeit ermöglicht. Doch die Beförderung zu diesen Einrichtungen wird oft nicht übernommen. Das bedeutet: Die Betreuung muss in den Ferien vollständig durch die Eltern sichergestellt werden. Eine durchgehende Erwerbstätigkeit wird so nahezu unmöglich, insbesondere für Alleinerziehende. Dies ist eine stille Form der sozialen Ausgrenzung.
Was besonders empörend ist: Viele Familien wissen nicht, dass sie nach dem Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) – Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen – auch für die Ferienzeiten einen Anspruch auf Beförderung haben, wenn sie diese beim Teilhabefachamt beantragen. Doch der Hinweis wird im Schulamt oftmals nicht gegeben. Dabei formuliert das Bundesteilhabegesetz klar den Anspruch, dass „Leistungen aus einer Hand“ erbracht werden müssen; mit anderen Worten: eine koordinierende Stelle muss sicherstellen, dass alle notwendigen Leistungen gebündelt und abgestimmt erbracht werden.
Ein Grundproblem dafür liegt in der unzureichenden Finanzierung durch den Berliner Senat. Die Mittel, die den Bezirken für die Schüler*innenbeförderung zur Verfügung gestellt werden, reichen bei Weitem nicht aus, um die tatsächlichen Bedarfe zu decken. Diese strukturelle Unterfinanzierung führt dazu, dass Anträge restriktiv bewilligt werden – auf dem Rücken der Schwächsten.
Was jetzt passieren muss
Wenn wir es mit Inklusion ernst meinen, darf diese Praxis nicht weiter geduldet werden. Als Bündnisgrüne stehen wir für eine Gesellschaft, in der alle Kinder, unabhängig von Behinderung, Herkunft oder familiärer Situation, die gleichen Chancen haben. Dafür braucht es:
- Transparente, niederschwellige und in allen Bezirken einheitliche Antragsverfahren, die die Bedarfe der Kinder in den Mittelpunkt stellen.
- Eine verlässliche Finanzierung der Schüler*innenbeförderung durch den Senat.
- Die Möglichkeit flexibler Abholorte.
- Eine umfassende Aufklärung der Eltern über ihre Rechte – am besten schon beim Schuleintritt.
Als Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen in der Bezirksverordnetenversammlung Friedrichshain-Kreuzberg setzen wir uns nachdrücklich für eine auskömmliche Finanzierung des Haushaltsansatzes für die Schüler*innenbeförderung ein. Unser Ziel ist klar: Alle angemeldeten Bedarfe müssen gedeckt werden – unabhängig von Haushaltssperren oder bürokratischen Hürden. Gleichzeitig versuchen wir, durch schriftliche Anfragen an das Bezirksamt mehr Transparenz über die bestehende Verwaltungspraxis zu schaffen und Licht in den Behördendschungel zu bringen, mit dem viele Familien tagtäglich konfrontiert sind.
Denn die aktuelle Praxis der Schüler*innenbeförderung in Berlin ist ein Beispiel dafür, wie strukturelle Diskriminierung im Alltag von Familien mit behinderten Kindern wirkt – oft unsichtbar, aber mit weitreichenden Konsequenzen.
Jutta Schmidt-Stanojevic (Mitglied der BVV-Fraktion von Friedrichshain-Kreuzberg) und Olja Koterewa (Mitglied der BVV-Fraktion von Friedrichshain-Kreuzberg)