In der Coronakrise schlägt die Stunde der Exekutive. Alle erforderlichen Maßnahmen sollen zur Eindämmung des Virus getroffen werden. Das bedeutet für uns alle nicht nur bisher nie dagewesene Einschränkungen, sondern auch massive Eingriffe in unsere Grund- und Freiheitsrechte.

Die Debatte ist besonders relevant aus der Landesperspektive, denn es sind die Länder, welche die DOs und DON’Ts festlegen. Auch als Kreisverband haben wir unseren politischen Betrieb keineswegs eingestellt, sondern neue Plattformen für politische Debatten geschaffen. In einem Webinar mit unserem Justizsenator Dirk Behrendt und Lea Beckmann von der Gesellschaft für Freiheitsrechte haben wir darüber gesprochen, wie Corona Berlin verändert.

Ganz schnelle, ganz tiefgreifende Maßnahmen, gar noch von Angst getrieben, wie sie nicht nur von konservativen Hardlinern gefordert werden, hält Dirk Behrendt für falsch. Die Diskussion im Senat über den richtigen Weg sei dabei stets an der Lage diskutiert und situativ angepasst worden, um eine effektive Eindämmung zu ermöglichen. Dabei sei es auch beim Berliner Weg in Abstimmung mit den anderen Bundesländern wichtig gewesen, einen „Flickenteppich“ zu vermeiden.  Lea Beckmann hat Verständnis für die Maßnahmen, sieht jedoch rein rechtlich einige Probleme. Dies fängt schon bei der Frage von „ausreichend bestimmten Rechtsgrundlagen“ an.

Je intensiver die Eingriffe, desto konkreter müssten die Rechtsgrundlagen sein. Diese sind jedoch im Infektionsschutzgesetz, auch mit den im März beschlossenen Änderungen in Bundestag und Bundesrat, weiterhin sehr unbestimmt. Umso wichtiger sei es, „alle Aspekte zu beleuchten“ und den Stellenwert der Grundrechte nicht außer Acht zu lassen, sagt Lea Beckmann. Da sind alle Akteure gefordert, nicht nur die Exekutive. Bei der juristischen Bewertung des Social bzw. treffender Physical Distancing stellt sich für sie die Frage, unter welchen Maßgaben wir uns im öffentlichen Raum frei bewegen können und gleichzeitig ein „kalkulierbares oder geringes Ansteckungsrisiko“ zu haben. Das findet Dirk Behrendt nachvollziehbar und hält es im Streitfall für essentiell, dass „der Rechtsschutz funktionieren muss“, also dass die Gerichte weiterarbeiten und Entscheidungen getroffen werden können.

Die große Frage der Verhältnismäßigkeit

Wenn es darum geht, ob Einschränkungen vernünftig sind, fällt immer der Begriff der „Verhältnismäßigkeit“. Das bedeutet, dass Maßnahmen nicht nur geeignet, sondern auch erforderlich und angemessen sein sollten. Und diese Frage muss man sich sowohl bei den getroffenen Regelungen, als auch bei der Anwendung in jedem Einzelfall stellen. Daher ist ein politischer Diskurs darüber nicht nur möglich, sondern geboten. Gerade für uns als politische Menschen und als Kreisverband, der sehr aktiv an Demonstrationen teilnimmt, stand dabei die Einschränkung der Versammlungsfreiheit in den letzten Wochen in einem besonderen Fokus. Hier hatte sich Dirk Behrendt dafür eingesetzt, dass eine Regelung aufgenommen wird, die weiterhin Demonstrationen ermöglichen soll. Allerdings ist es nicht nur juristisch problematisch, dass damit der politische Straßenprotest faktisch zum Erliegen gekommen ist. Schließlich sprechen wir hier von einem Grundrecht, das in seinem Wesensgehalt eben nicht angetastet werden darf. Auch in unserem Bezirk wurden Demonstrationen untersagt oder aufgelöst, obwohl Versammlungsteilnehmer*innen mit Mundschutz und unter Einhaltung der Abstandsregelungen ihren politischen Protest kundtun wollten. Das macht deutlich, wie wichtig es ist, die Anwendung und Umsetzung der Maßnahmen durch die Behörden und die Polizei zu hinterfragen und gegebenenfalls nachzujustieren.

Dies ist beispielsweise bei den Kontaktbeschränkungen passiert. Hier hatten sich insbesondere die Grünen dafür stark gemacht, dass das Verweilen auf Parkbänken weiterhin erlaubt bleibt. Auch wenn es möglicherweise einfacher wäre mit leeren Parks und leeren Straßen, so haben wir Freiheitsrechte, die sich nicht aus Bequemlichkeit aussetzen lassen. So sieht es auch Lea Beckmann und begrüßt, dass sich „die Regierung in diesem Punkt rechtsstaatlich korrigiert“ hat. Nicht alles was geeignet ist, ist gleich verhältnismäßig. Und diese Verhältnismäßigkeit ist nicht zuletzt eine Frage der Vernunft, der Akzeptanz und des politischen Diskurses auch in Krisenzeiten.

Corona verändert Berlin und wir können derzeit nicht absehen, wie die nächsten Tage, Wochen und Monate aussehen werden. Aber wir sollten alle kritisch bleiben. Alle Maßnahmen und Veränderungen, die wir jetzt erleben, stellen uns vor die Frage: Wo soll es hingehen? Welche Schlüsse ziehen wir aus der Krise? Was können wir daraus lernen – sowohl im negativen als auch im positiven Sinne. Und dafür braucht es auch oder gerade in der Stunde der Exekutive eine politische, kritische und reflektierte Debatte über das Wie. Wie sich Berlin durch Corona verändert, das entscheiden nämlich wir alle zusammen. Übrigens: Die Diskussion mit Dirk Behrendt und Lea Beckmann gibt es zum Nachhören in unserem Podcast, dem Stachelcast, auf unserer Homepage oder auf Spotify und Apple Music.

Vasili Franco, Geschäftsführender Ausschuss für den Stachel 04/2020