Vom Verschwinden der Gewalt – Kreuzberg am 1. Mai

I Vorher

Wenn große Ereignisse ihre Schatten vorauswerfen, ist auch der Supermarkt kein zeitloser Konsumtempel mehr. Das gilt erst recht für „edeka-aktiv“ auf der Neuköllner Seite des Kottbusser Damms, wo die Beschallungsanlage für gewöhnlich mit leicht verdaulicher musikalischer Radio-Kost die Einkaufslaune des Kunden umschmeichelt. Doch jetzt, eine handvoll Stunden entfernt vom D-Day, wie der 1. Mai bei Radio EINS martialisch kodiert wird, herrscht im Äther überall eitle Aufgeregtheit. Alles dreht sich um die Frage: gibt es Randale oder nicht? Und wenn nicht, warum? Keine Gewalt am 1. Mai – das muss begründet werden!

Ein Interview mit Silke Fischer, der Chef-Organisatorin des Myfestes wird gesendet. Die „Revolutionäre 1. Mai Demonstration“ soll durch das Fest geleitet werden. Die Reporterin scheint sich wirklich nur für das eine zu interessieren: kommt Randale oder nicht? Silke Fischer behält die Fassung und antwortet geduldig, wobei sie versucht, die ganze Vielfalt des Myfestes zu vermitteln: die Info-Stände, die Kinder-Events, die unzähligen Bands… Die Reporterin unterbricht: „Und was, wenn doch Gewalt ausbricht?“ – „Dann haben wir eben Pech gehabt!“ Die Moderatorin der ansonsten eher betulichen Abendschau scheint wirklich freudig erregt, als der erste Live-Bericht in der Spätausgabe zu Ende ist. „Gute Nachrichten, meine Damen und Herren. Das war Ulli Zelle aus dem friedichen Kreuzberg.“ Sprach´s, und vergaß, vielleicht auch aus mütterlicher Sorge um den Starreporter, für diesen Moment den postmodernen Leitsatz der Nachrichten-Journaille: „Only Bad News Are Good News“.

Wenig später scheint es dann zu klappen. In einer Liveschaltung zum Boxhagener Platz in Friedrichshain ist von Unruhen die Rede. Dort wird die Walpurgisnacht gefeiert, deren Verlauf eigentlich als zuverlässiger Indikator für den nächsten Tag gilt. Doch der verantwortliche Polizeiführer spricht nur von Randerscheinungen und stellt das strategische Paradigma heraus: das „Konzept der ausgestreckten Hand“ habe sich bewährt.

Die Palette der Strategien auf Seiten der Staatsgewalt ist inzwischen breit gefächert, sie reicht vom strikten Demonstrationsverbot über die Besetzung von neuralgischen Plätzen bis hin zur sogenannten Deeskalation, es gibt fast nichts, was noch nicht probiert worden ist – mit nahezu anhaltender Erfolglosigkeit. Momentan gilt das erwähnte „Konzept der ausgestreckten Hand“, welches den Einsatzkräften eine für ihre Verhältnisse ungewohnte Zurückhaltung abverlangt. Die Staatsmacht setzt nämlich zunehmend auf die Förderung eines expansiven Myfestes mit seinem Kern auf dem Mariannenplatz.

II Das Fest

Wer das Befriedungsareal des Myfestes zum Beispiel am Kotti betritt und via Adalbertstraße zum Mariannenplatz will, muss sich schnell auf unterschiedliche Geschwindigkeiten einstellen. Vorbei an kleinen, provisorischen Ständen, wo sich Anwohner mit dem Verkauf von Getränken die karge HartzIV-Kasse aufzufüllen versuchen, verlangsamt sich auch schon der Schritt im Bereich der ersten Bühne. Hiervon gibt es insgesamt ca. zwanzig, welche auch und gerade an Kreuzungen und auf Plätzen stehen und die von Volksmusik über Punkrock bis Rap den Sound des Myfestes liefern. Dort gestaltet sich das Passsieren je nach Zuschauerandrang zum Teil recht zähflüssig, jedoch lohnt sich das erzwungene Verweilen in der Regel, ist es doch Ausdruck für die Qualität auf der Bühne. Wenn dann vermehrt Luftballons aufsteigen, Rauchschwaden von Gegrilltem den Horizont vernebeln und bemalte, ausgelassene Kids einem am liebsten durch die Beine wollen, ist man auf dem Mariannenplatz angekommen, wo es jetzt, am tiefen Nachmittag, noch voller erscheint als im Jahr zuvor.

Am 1. Mai 1972 stolperte ich als 23jähriger Antirevisionist über den Mariannenplatz und hörte für eine Weile einer Rockgruppe zu, die wie die Stones spielte. Sie nannte sich „Ton Steine Scherben“, war Teil der 68er-Bewegung und beileibe noch keine Legende. Allerdings versetzte mich bei einem Song (Mensch Meier) der Refrain in solch ungläubiges Staunen, dass ich die nächste Zuhörerin um Bestätigung bat:“Was singen die da!? – Eher brennt die BVG?!“ Herrlich illegal, von da ab war ich Fan.

Am 1. Mai 2007 auf dem Oranienplatz singt das jüngste Mitglied des Abgeorgnetenhauses zu Berlin, die 22jährige Clara Herrmann, just diesen Refrain in der ihr gegebenen verhaltenen Inbrunst mit, so, wie man eben klassische Kulturgüter in gewissen Kreisen goutiert.

Es ist der unbestreitbare Höhepunkt des Myfestes, der Auftritt der „Ton Steine Scherben Family“, einer erst seit ein paar Jahren existierenden Band, bestehend aus ehemaligen Scherben-Mitgliedern und familiärem Zuwachs und Nachwuchs. Mit ungleich mehr Zuhörern als vor 35 Jahren ist der Platz nördlich der Oranienstrasse auf´s dichteste von Menschen bedeckt, die Verstärker sind viel zu schwach, die Schallwellen kommen nicht durch. Trotzdem ist die Stimmung gut, zu gut: sie spielen zwar alle bekannten Songs vom „Rauchhaus Song“ über „Keine Macht für Niemand“ bis hin zum grandiosen „Halt dich an deiner Liebe fest“, doch die Rohheit, die Aggression und auch die klangtechnische Unzulänglichkeit, welche der alten Band immer anhaftete, sind wohl in erlebter Geschichte abgelegt. „Ton Steine Scherben“ besaßen wie keine andere deutschsprachige Rockband die Fähigkeit, politische Inhalte in hoch emotinalen Situationen transportieren zu können. Dieses Mal gibt es zwar drei Zugaben, jedoch keine anschließende Hausbesetzung.

III Nachher

Erst der Tag danach bringt die Bilanz ans Licht: zum dritten Mal in Folge ist es in Kreuzberg am 1. Mai ohne nennenswerte Zwischenfälle geblieben. So schwer es angesichts der Macht der Gewohnheit auch fallen mag: der Kiez ist offensichtlich nicht mehr in der Lage, die mediale Öffentlichkeit regelmäßig mit Bildern von urbanem Schlachtentum zu versorgen.

Auf der Suche nach den Gründen für das „Verschwinden der Gewalt“ werden einige auf das „Konzept der ausgestreckten Hand“ und das flächendeckende Myfest verweisen, beides allerdings nur Reaktionsformen mit ihrer Legitimation in den gewaltsamen Protestaktionen, nämlich, um diese zu verhindern. Jedoch aufgeladene Wut, die der Unzufriedenheit über die gesellschaftlichen Verhältnisse entspringt, läßt sich nicht durch noch so raumgreifendes Feiern eindämmen. Sie ist auch nicht an einen bestimmten Ort gebunden, Straße ist schließlich überall, wenn man sie denn als Medium will.

Nun ist diese Wut auf das bestehende System nicht etwa geringer geworden, im Gegenteil: Hartz IV, dauerhaft sinkende Reallöhne und Rentenkürzungen haben ihre diesbezügliche Wirkung nicht verfehlt, nur auf der Straße drückt sich das nicht mehr aus. Ist der Glaube an die Legitimität der öffentlichen Demonstration entscheidend geschwunden und/oder unterbindet die Dominanz einer depressiven Resignation jegliche Artikulation des politischen Protestes?

Das Gegenstück zur Explosion ist die Implosion, deren konsequenzlogische Erscheinungsformen in ihrer Unberechenbarkeit dem absurden Charakter des herrschenden Zeitgeistes eher gerecht werden.

axel w. urban