Eine Zeitreise

Leise gleitet das Taxi über das dunkle Wasser. In einem eleganten Bogen legt der Skipper am Oberbaumkai an. Ich steige ein. „Zum Kraftwerk, bitte!“ „Ja, da woll’nse heute alle hin.“ Mindestens die Schnodderschnauze der Taxifahrer hat sich nicht geändert. Es ist lange her, dass ich in Berlin war. Als ich die Stadt verließ, waren Wassertaxen noch trendy, heute sind sie schon fast wieder vom Aussterben bedroht. Kaum einer mag noch über die faulig stinkende Spree tuckern, kahl gähnen einem die Uferböschungen im Halbdunkel entgegen, bis auf eine schmale Fahrrinne liegt die Spree die meiste Zeit des Jahres trocken.

Grundwasserverdrängung, Klimawandel, denke ich müde. Rechts und links bohren sich die 30 Jahre alten Hausfassaden in den Himmel. Vieles steht leer, in einigen Etagen brennt Licht. Eine Weiterentwicklung der Kreuzberger Mischung. Kleinstunternehmen wohnen und arbeiten hier auf engsten Raum, sie nutzen die räumlichen Synergieeffekte zum täglichen Überlebenskampf. Die Karawane der Investoren ist längst nach Osten weitergezogen. Von China aus betrachtet liegt Berlin auch wirklich am Rand.

Da, die alte Heeresbäckerei. War mal ein flottes Casino mit riesigen Spielsälen und Wettbüros, quasi in Ergänzung zur O2 Arena gegenüber. Damals pendelten die schicken Limousinen über die Bromybrücke nach den Shows hin und her. Für Stars und Sternchen perlte der Champagner den roten Teppich herab. Die Modetypen, Models und ihre Entournage kamen gern nach Feierabend vom Viktoriaspeicher hierher. Die Agentinnen der Callcenter auf ihrem Heimweg vom Spreeport zur U-Bahn verrenkten sich die Hälse, um einen Blick auf den Glamour der Modemogule erhaschen zu können, wenn sie nicht schon zu müde nach neun Stunden Dauerkundengesäusel waren. Es gab Arbeit für alle. Vor allem im Dienstleistungsbereich: Callcenter, Servicekräfte, Raumpflegemanager, Systemadministratoren, Catering, Wellness. Viel Platz für kreative Ideen.

Ich erinnere mich an den smarten Typen, der in den Kellern des Columbus Hauses auf der anderen Seite, die sandige Arena YAM führte, in der riesige Ratten gegeneinander in schmucken Trikots antraten. Und die Frau, die gleich nebenan ihre 24h Reinigung TOGO betrieb, kombiniert mit einem Massageangebot Thai oder ShyShy. Blutspritzer fleckenlos zu entfernen war ihr USP. „Na, sone Scheiße ooch! Hier geht’s nicht weiter.“ „Was ist los?“, aufgeschreckt aus meinen Gedanken, versuche ich durch die Nacht zu spähen. Wir sind jetzt auf der Höhe der ehemaligen Schillingbrücke, jetzt Anschütz Brücke. „Da liegt ein Autowrack mitten in der Fahrrinne! Jetzt bei Dunkelheit und dem Tiefstand komm’ ick da nich’ durch. Sorry Madam, aber ick muss’se am Verdi-Kai rauslassen. Is ooch billger.“ Ich schaue auf meinen Timer. Na gut, eine halbe Stunde früher oder später wird nicht tragisch sein, überlege ich. Ich gebe dem Taxiskipper sein Geld und springe an Land. Vielleicht doch ganz hübsch noch auf der Uferpromenade entlang zu flanieren.

Damals war das echt eine Sensation! Noch nie konnte man in Kreuzberg oder etwa auf der Friedrichshainer Seite an der Spree entlang spazieren. Im Sommer machte es Spaß, die nackten Männerbäuche auf ihre Waschbrettqualitäten zu prüfen. Kinder hüpften am Wasser entlang, gefolgt von ihren ängstlichen Muttis und von Hunden umspielt. Mediaspree war super in Mode. Es gab Spreeburger mit Mediamix, Kaffee mediato und O24U, ein leicht alkoholisiertes Mixgetränk blau wie Polareis und bitter wie Campari an den vielen kleinen Mediaspreesken, wie die Kioske genannt wurden – alle durchgestylt im CD der Mediaspree Entwicklungs GmbH.

Die Beleuchtung der Promenade ist lückenhaft stelle ich fest, was soll’s. Tapfer taste ich mich über den holprigen Weg. Da geht es plötzlich nicht mehr weiter. Quer über den Weg ist ein Zaun gespannt. Mit meinem Feuerzeug versuche ich das Schild auszuleuchten: „Entwicklungsgebiet – Betreten verboten. Eltern haften für ihre Kinder“, lese ich. Mist! Zurück und versuchen irgendwie zur Köpenicker durchzukommen. Ich biege rechts auf einen Weg ein. „Halt! Stehen bleiben.“ Ein Wachmann, einer der letzten Arbeiter des Zukunftstandortes Mediaspree, leuchtet mir mit seiner Taschenlampe direkt ins Gesicht. Ich kneife die Augen zusammen und frage nach dem Weg zur Strasse. „Alles Forschungsgelände im Privatbesitz. Hier können Sie nicht durch. Bitte gehen Sie zurück auf die Uferpromenade.“ Verärgert gehe ich zurück in Richtung Anschütz Brücke.

Plötzlich ist mir die Lust auf das Bürgerhappening im alten Kraftwerk vergangen. Was soll ich da auch? Mir erzählen lassen, was sie diesmal tolles planen als Zukunftsprojekt? Ich bin müde. Mit fast 70 muss ich nicht mehr in der ersten Reihe stehen. Ich winke eine Droschke ran. Nette Sache, diese Pferdekutschen auf der für Autos stillgelegten Köpenicker Strasse, denke ich und sinke in die blauen Plüschpolster.

Barbara Fischer