"Postdemokratie" lautet der provozierende Titel eines schmalen Büchleins, das in jüngster Zeit lebhafte Debatten ausgelöst hat. Sein Verfasser, der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch, fasst unter diesem Signalbegriff beunruhigende Veränderungen zusammen, die sich in vielen westlichen Demokratien in den letzten Jahren beobachten lassen.

Ob es die Einzelheiten der Teilprivatisierung der Berliner Wasserbetriebe oder die Verträge der S-Bahn für die Lieferung neuer Züge sind, aus Rücksicht auf die wirtschaftlichen Interessen der Geschäftspartner blieben sie den Abgeordneten des Berliner Parlaments unbekannt. Mit derselben Begründung liefen die Details der Bankenstützung vollständig am Bundestag vorbei. Nur eine kleine Gruppe von Abgeordneten des Sonderausschusses wusste mehr. Große Teile der Öffentlichkeit erregten sich indessen über Ulla Schmidts Dienstwagenaffäre.

Das sind aktuelle Beispiele für den Zustand, den Crouch als Postdemokratie bezeichnet. Das ist ein Gemeinwesen, in dem zwar nach wie vor Wahlen abgehalten werden, in dem allerdings konkurrierende Teams professioneller PR-Experten die öffentliche Debatte während der Wahlkämpfe so stark zu kanalisieren vermag, dass sie zu einem reinen Spektakel verkommt. Die Mehrheit der Bürger spielt dabei eine schweigende, ja sogar apathische Rolle, während die wirtschaftlichen Eliten ihren Einfluss ausbauen können.

„In einer Postdemokratie (…) stehen die Chancen schlecht für egalitäre politische Projekte zur Umverteilung von Wohlstand und Macht sowie die Eindämmung des Einflusses mächtiger Interessengruppen“, schreibt Crouch, und insbesondere Sozialdemokraten, an die er sich besonders wendet, sind „zunehmend mit der eigenen Ohnmacht konfrontiert.“ Doch auch für uns Grüne ist dies ein lehrreiches Buch, denn es bietet eine sehr gut lesbare Übersicht über historische Zusammenhänge und aktuelle Symptome jener Krise der politischen Kultur, in der wir uns befinden.

Immer häufiger entschwinden die Geschäftsbeziehungen privater Unternehmen mit dem Staat, ein in Zeiten von private-public-partnership expandierender Sektor, lautlos in den außerparlamentarischen Raum. In Großbritannien gibt es heute bereits einen eigenen Minister für ‚corporate social partnership‘, der die Vereinbarungen zwischen Regierung und großen Firmen zur Übernahme staatlicher Aufgaben verantwortet. Hier zeigt sich die Hinwendung zu mehr private-public-partnership noch deutlicher als bei uns als Kontrollverlust der Parlamente. Die Bedeutung von Demokratie und sozialen Bürgerrechten schwindet als Folge einer intransparenten Kommerzialisierung öffentlicher Dienstleistungen.

Es zeigt sich aber auch: je mehr Firmen jenseits des Marktes beginnen, Aufgaben für das öffentliche Leben zu übernehmen, desto mehr müssen sie damit rechnen, mit Kritik konfrontiert zu werden. Für fast alle große Firmen gibt es inzwischen ‚konzernkritische websites‘, auf denen Gruppen der Zivilgesellschaft die Arbeit dieser Firmen untersuchen und Alternativen formulieren. Besonders sichtbar sind die Gefahren einer postdemokratischen Entwicklung für die kommunale Demokratie. Crouch plädiert für eine Ausweitung des Bereichs staatlicher Leistungen, den die Kommunalpolitik verantwortet. Und für eine Dezentralisierung, die es ermöglicht, Vorschläge von Bürgerversammlungen und politischen Initiativen ernsthaft umzusetzen. Wir Grüne erfahren diese Schwierigkeiten in unserem Bezirk ganz konkret, wenn es etwa um Veränderungen bei der Spreeuferbebauung oder der Durchführung des BürgerInnenhaushalts geht. Deshalb plädieren wir für eine deutlich bessere Finanzausstattung der Bezirke und erweiterte Möglichkeiten direkter demokratischer Teilhabe. Auch wenn der Begriff „Postdemokratie“ vielleicht zu stark ist, Crouchs Büchlein sensibilisiert seine LeserInnen in ungemein anregender Weise für die Gefahren, die von dem wachsenden Einfluss wirtschaftlicher ‚Eliten‘ auf politische Entscheidungen ausgehen.   Wolfgang Lenk