Alternative UnternehmerInnen

Das Th ermometer zeigt minus zehn Grad. Ungewöhnlich kalt für eine Berliner Herbstnacht. Doch im Plenum der Bewohner, Arbeiter und Gewerbler der Cuvrystrasse 23 tief in der Nacht, tief in Kreuzbergs verlorenem Mauerwinkel und tief in den bewegten Siebziger- Achtziger Jahren geht es heiß her. Man fühlt sich verarscht. Seit Monaten verhandelt man mit dem Eigentümer, Dr. Erich Marx, über Nutzungsverträge, Kaufoptionen oder schlicht die Verlängerung von Mietverträgen, doch die Abrissgenehmigung liegt schon fertig in der Schublade. Der kunstsinnige Immobilienmann will seine lukrative Methode aus dem Wedding nach Kreuzberg importieren: Entmieten, abreißen und billig neu bauen. In dieser Nacht zum 01. November 1980 entscheiden sich Wohnende und Gewerbetreibende gemeinsam: Wir besetzen! Es ist die Geburtsstunde des Kerngehäuses.

Kreuzberger Mischung

Vielleicht war es die fortgesetzte Kreuzberger Mischung, die langfristig für den Fortbestand dieser legendären Einrichtung sorgt. Ellen Kraft und Michael Morosoff, die von Anfang an dabei waren, teilen diese Überzeugung. Die 122 jährige Geschichte des Gebäudeensembles im Block 133 ist so exemplarisch wie unspektakulär.

Im Vorderhaus wohnten die Arbeiter und Angestellten der Fabrik, die sich über Seitenfl ügel und zwei Hinterhöfe ausbreitete. Bis zum industriellen Niedergang Westberlins nach dem Mauerbau, dem sich nur große Unternehmen dank der westdeutschen Finanzspritzen widersetzen konnten, produzierte und exportierte hier ein mittelständisches Unternehmen Nähmaschinen für fleißige Töchter. An heißen Tagen dünsten die alten Dielen immer noch das Maschinenöl von ehedem aus. 1967 wurde die Fabrik geschlossen. In die Gewerberäume zogen kleinere Betriebe: Textil-, Papier- und Fuhrunternehmen. Als die Entmietung bereits beschlossene Sache war, kam 1977 ein Taxikollektiv dazu. Dieses Taxikollektiv, eine Tischlerei und ein Th eater waren dann auch die Keimzellen des Kerngehäuses.

Die Mischung aus Wohnen und Gewerbe bewährte sich in der Hausbesetzerzeit. Es gab Werkzeug und Fachverstand für die Instandsetzung der Gebäude und die notwendigen Umbaumaßnahmen der Fabriketagen für die Zwecke der großen Wohngemeinschaften. In den wöchentlichen Plenen diskutierte man, die „Linie“ in der Hausbesetzerbewegung, die Belange der insgesamt 100 Besetzer der Cuvry 23 und koordinierte die Baumaßnahmen.

Legalisierung

„Es half, dass wir alle bereits Kommune erfahren und projektbezogen dachten. Das gab uns eine innere Festigkeit, um die uns andere Häuser beneideten“, sinniert Ellen Kraft. 1983 resultierten der feste Verhandlungswille und der hohe innere Organisationsgrad in einen Kaufvertrag. Aus der Marx-Immobilie wurde der Kerngehäuse e.V. Der Verein ist eine Interessensvertretung zum Betrieb der Immobilie. Er ist der Eigentümer der Immobilie und zählt heute ca. 50 Mitglieder. Und zwar wie eh und je Wohnende und Gewerbetreibende. Ein Drittel ist von Anfang an dabei.

Das Zwei-Lesungsprinzip

Auf die Frage was bleibt, schauen Ellen Kraft und Michael Morosoff zunächst etwas ratlos. Da ist natürlich das Haus selbst. Ob es dem Verein gelingen wird, sich zu verjüngen und seine älter werdenden Bewohner auch noch den 50. Jahrestag der Besetzung feiern werden, ist Zukunftsmusik. Natürlich ist man stolz, dass es über die Jahre gelungen ist, einen ökologisch und ökonomisch überzeugenden Energiemix aus Blockheizkraftwerk und Solarstrom aufzubauen, mit dem selbst die Nachbarschaft versorgt wird. Aber etwas bleibt, was das Kerngehäuse von heutigen Bauherrenmodellen unterscheidet: Das Zwei-Lesungsprinzip.

Eine wichtige Errungenschaft aus jahrelanger Diskussionskultur. Tauglich vielleicht auch für andere selbstverwaltete Systeme. Es besagt, dass jeder Beschluss zweimal diskutiert wird. Erst, wenn er zweimal nach einander gleich vom Plenum entschieden wurde, ist er gültig. Sonst beginnt die Diskussion von vorn. Dieses Prinzip bewahrt die Gemeinschaft vor den destruktiven Auswirkungen von Fraktionsbildungen und Zählgemeinschaften und sorgt für den Zusammenhalt des Ganzen. Seit dreißig Jahren.

Barbara Fischer