Berlin rühmt sich gerne als Ort der Vielfalt, als Stadt der Freiheit, als Platz, wo mensch sein kann, wie mensch will. Verrückt und gleichzeitig attraktiv: Dit is Berlin. Und dieser Ruf macht die Stadt zum Anziehungspunkt für Menschen aus aller Welt, genauso wie vom Dorf. Berlin ist ein Sehnsuchtsort für viele, die hier ein Zuhause finden, das sie nirgends anders finden könnten.

Eine lange Historie liegt hinter dieser Entwicklung. Nach dem zweiten Weltkrieg durchlebte Berlin die Teilung. Bereits in der Zeit vor der Wiedervereinigung von Ost und West prallten hier unterschiedlichste Lebensrealitäten aufeinander, vieles konnte ausprobiert werden und wurde es auch. Gerade unseren Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg hat das geprägt wie kaum einen anderen Ort in dieser Stadt. Spätestens mit den 70ern kamen Künstler, Kreative, Intellektuelle, Punks und Freigeister nach Kreuzberg und füllten die Kieze mit Leben. Ob sie damit die Vorboten der sogenannten „Hipster“ waren, darüber lässt sich trefflich streiten. Aber sie haben den Bezirk und den Ruf von Kreuzberg und Berlin weit über die Grenzen der Stadt getragen. Leerstehende Häuser wurden besetzt, alternative Lebenskonzepte konnten aufblühen, eine Mischung aus Kreativität und Chaos – aber mit einem einzigartigen Charakter. Bei aller Unterschiedlichkeit: Solidarität wurde damals schon großgeschrieben. So besang Rio Reiser 1972 den Mariannenplatz: „Sag mal, ist hier heut ’n Fest?“
„Sowas ähnliches“, sagte einer, „das Bethanien wird besetzt“. Das rebellische Kreuzberg – bis heute ein Teil der Berliner „Marke“.

Das neue Xhain

Nach der Wende wuchsen Friedrichshain und Kreuzberg zusammen. Auch hier entstanden neue Freiräume. Aus dem über Jahrzehnte unbeliebten Grenzgebiet wurde ein pulsierendes Zentrum für Kunst und Kultur. Auch hier waren Hausbesetzungen Teil der städtischen Entwicklung. Über 30 Jahre später ist Xhain immer noch etwas anders, etwas lauter, etwas aufmüpfiger. Die Attribute haben sich der Bezirk und seine Einwohner*innen – ob nun schon lange hier lebend oder neu zugezogen  – bis heute behalten und sind nicht selten auch etwas stolz darauf. Und die besetzen Häuser? Sie sind zum größten Teil integraler Bestandteil der Kieze, oftmals über die Jahre von den Bewohner*innen erworben oder (legal) übernommen, über Genossenschaften oder das Mietshäusersyndikat in Eigentum oder in gemeinsame Bewirtschaftung überführt.

Rechtsfreie Räume?

Das ist nicht in allen Fällen gelungen. Einige Gebäude mit langer Geschichte sind zum Streitpunkt der Berliner Landespolitik geworden. Die Meuterei, das Syndikat, die Liebig34 und die Rigaer 94. Medial wird sich ihrer immer wieder als Austragungsort der Diskussion um Keimzellen des Linksextremismus bedient. Es wirkt, als haben sich in den letzten Monaten Allianzen von konservativen Medien, vom Springerverlag bis hinein in Tagesspiegel und rbb und einem Zusammenschluss politischer Parteien von AfD, CDU, FDP bis hin zu Teilen der SPD im Vorwahlkampf gebildet. Das Ziel ist offensichtlich, noch vor den Wahlen auch die letzten autonomen Freiräume – insbesondere in Xhain – unter dem Deckmantel der Bekämpfung von Keimzellen linksextremistischer Gewalt zu schleifen und damit bei den Wähler*innen der sogenannten „bürgerlichen Mitte“ zu punkten.

Von No-Go-Areas bis zu rechtsfreien Räumen ist die Rede, von Feinden des Rechtsstaates, die Eigentum missachten und doch eigentlich aus den Kiezen „rausgeprügelt“ werden sollten. Ein ziemlich wirres Verständnis von Rechtsstaat und eine Dekonstruktion sämtlicher historischer Entwicklungen und erst recht der Lebensrealität der Nachbarschaften der jeweiligen Kieze.

Politikversagen ist der Vorwurf. Dieser Aussage stimmen wahrscheinlich vom Investor bis zur Hausbesetzerin alle zu, doch eben aus ganz unterschiedlichen Perspektiven. Die einen wollen um jeden Preis ihr Recht auf Eigentum und hunderte Prozente von Rendite durchgesetzt bekommen, die anderen beklagen, dass die Politik nur ein Spielball kapitalistischer Interessen geworden ist. Und wir Grüne in Friedrichshain-Kreuzberg – mittendrin in einer Gemengelage, in der man es niemandem wird recht machen können. Weil der Bezirk eben auch nicht immer alle Probleme der Welt zu lösen vermag, auch wenn wir es immer wieder gerne versuchen.

Doch worum geht es nun? Ja Kritik – nicht Gewalt – ist berechtigt, gegen den Kapitalismus, gegen den Wohnungsmarkt, gegen renditeorientiertes Monopoly, dass die Bewohner*innen in den Kiezen oftmals machtlos dastehen lässt. Genauso gibt es geltendes Recht, das nun eben gerade von Politiker*innen in Verantwortung umgesetzt werden muss.

Gewollte Eskalation

Zuletzt eskalierte es einmal wieder um eines der wenigen verbliebenen teilbesetzten Häuser, die Rigaer 94. Die halbe Republik wurde plötzlich zu Brandschutzsachverständigen und Expert*innen in Miet-und Eigentumsrechtsfragen, während unser Baustadtrat Florian Schmidt nach einer Lösung im Sinne des vorgebrachten Arguments – dem Brandschutz – versuchte, einen erneuten überdimensionierten Polizeieinsatz zu vermeiden, wie ihn nicht nur der Nordkiez schon öfter erleben musste. Alle Augen auf die Rigaer, die Kolumnen, Blogs und Twitterfeeds ließen unaufhaltsam ein ideologisches Feuerwerk aufsteigen, das sich in seiner Reaktion immer weiter aufschaukelte. Nur um den Brandschutz ging es schon lange nicht mehr – oder besser gesagt noch nie.

Der Konflikt eskalierte an dieser Stelle leider einmal mehr zu Lasten der Nachbarschaft mit brennenden Barrikaden und Steinwürfen. Ein Worst-Case-Szenario, dass zumindest nicht ganz unvorhersehbar und sicher von einigen auch gewollt war. Unsere Antwort lag und liegt immer in der Suche nach politischen Lösungen, die eben solche Situationen nicht provozieren, sondern verhindern. Kurz gesagt: Langeweile für die Polizei und ausbleibende Revolution für die Hausbesetzer*innen. Politische Lösungen zu finden gestaltet sich in der Realität aber leider oftmals schwieriger als sie klingen. Es gilt geltendes Recht, politische Differenzen aus komplett unterschiedlichen Weltbildern und genauso einen eigenen politischen Anspruch nach einer gerechteren, sozialeren und friedlicheren Welt in Handlungen umzusetzen. Wir versuchen dies zumindest immer wieder aufs Neue.

(Auf)Geräumte Stadt?

Was ist, wenn das letzte Haus geräumt ist? Haben wir dann den lang ersehnten politischen Frieden? Ein Frieden bestehend aus Hochglanzfassaden und Wohnungen für wenige und nicht mehr für Künstler, Punks und irgendwann auch nicht mehr für die Hipster? Wenn nicht die Nachbarschaft entscheidet, was in den Kiezen geschieht, aber dafür Hedgefonds und Briefkastenfirmen noch mehr und größere Ziffern in Bilanzen stehen haben. Sprechen wir dann von Freiheit und Vielfalt? Dann mag zwar Rio Reiser noch erklingen, aber sein Ruf wohl schnell verhallen. Und wäre das dann noch unser Xhain?

 

Vasili Franco, Direktkandidat im Wahlkreis 5

Werner Heck, Bezirksverordneter, kandidiert auf Platz 4 unserer BVV-Liste

Dieser Artikel erschien zuerst im Stachel, der bündnisgrünen Parteizeitung in Xhain.