DS/1916/III

Mündliche Anfrage

Ihre Mündliche Anfrage vom 29.09.2010 beantworte ich wie folgt:

1. Wie viele Wohnungen in Friedrichshain-Kreuzberg, in denen Hilfen von freien Trägern Hilfen nach dem SGB VIII, IX oder XII angeboten werden, sind von massiven Mietsteigerungen aufgrund des Wegfalls der Anschlussförderung betroffen?

Antwort:

Vom Wegfall der Anschlussförderung sind in Friedrichshain-Kreuzberg 2246 Wohnungen des Wohnungsbauprogramms 1985 – 1997 betroffen. Diese wurden 2003 durch die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung an die Bezirke gemeldet.

Im Ortsteil Kreuzberg handelt es sich u. a. um die im Rahmen der IBA 1984 hergestellten Wohngebäude in der Nähe des Potsdamer Platzes. Im Ortsteil Friedrichshain (wie in allen Ortsteilen des Beitrittsgebiets) um den gesamten im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus nach der Wiedervereinigung errichteten Neubau.

Insgesamt sind in Berlin vom Wegfall der Anschlussförderung 538 Unternehmen mit 713 Objekten und 27.994 Mietwohnungen betroffen. Im Bezirk sind 182 Wohnungen, die für Senioren und 46 Wohnungen, die für Rollstuhlfahrer gefördert wurden, vom Wegfall der Förderung betroffen. Das sind 23 % der öffentlich geförderten Seniorenwohnungen und 30% der vorhandenen Rollstuhlfahrerwohnungen.

Diese sind zwar von der Senats-Freistellung ausgenommen, werden aber bei Ablöseverträgen mit der IBB freigestellt oder sind auf Grund der Miethöhe nicht akzeptierbar. Auch in diesem speziellen Wohnungssegment ist eine Versorgung zunehmend unmöglich. Eine genaue Anzahl der Sozialwohnungen, die von freien Trägern für die Betreuung Ihrer Klientel angemietet wurden, kann nicht genannt werden. Datentechnisch lässt sich dieses nicht differenzieren und auswerten.

2. Wie schätzt das Bezirksamt die Situation ein, dass immer mehr Menschen mit Einschränkungen, die besonders betreut werden müssen, aus Friedrichshain-Kreuzberg verdrängt werden?

Antwort:

Mit dem Wegfall der Anschlussförderung dürfen die Eigentümer die Miete über die ortsübliche Vergleichsmiete für nichtpreisgebundenen Wohnraum nach dem Berliner Mietspiegel hinaus bis zur Höhe der vollen Kostenmiete anheben. Dies ist gemäß den Regelungen des Wohnungsbindungsgesetzes zur Kostenmiete (§§ 8 ff. WoBindG) zulässig.

Da die Verfügungsberechtigten nicht an die Regelungen des BGB gebunden sind, kann die Miete schlagartig bis zur Kostenmiete erhöht werden. Diese beträgt zwischen 13,00 und 15,00 € nettokalt/ m². Die davon betroffenen Mieter sind überwiegend berechtigt, d. h. mit einem WBS in diese Wohnungen eingezogen.

Solche Mieterhöhungen sind von den Mietern wirtschaftlich nicht zu verkraften. Es bleibt Ihnen oft nur die Möglichkeit, die Wohnung zu kündigen. In beiden Ortsteilen hat der Bezirk Belegungsrechte im Bestand des sozialen Wohnungsbaus, soweit dieser nicht vom Senat freigestellt wurde. Hier dürfen die Wohnungen nur an Wohnungssuchende vermietet werden, wenn durch diese ein passender Wohnberechtigungsschein vorgelegt wird.

Mit der generellen Freistellung, die es den Eigentümern ermöglicht, frei und ohne Bindungen zu vermieten, ist ein erheblicher Druck auf die Bestandsmieter entstanden. Zusammen mit der Möglichkeit, die Miete bis zur Kostenmiete zu erhöhen, findet eine Vertreibung der Bestandsmieter statt, die die Stadt- und Sozialstruktur nachhaltig verändern wird. Die Anmietung der geförderten Wohnungen gestaltet sich in beiden Ortsteilen für Bezieher von Transferleistungen, Familien mit Kindern, Behinderte, alte Menschen zunehmend schwieriger, weil z. B. die als angemessen anzusehenden Mieten gem. AV Wohnen im betrachteten Zeitraum nur bei 1-Personen-Haushalte um 5 % angehoben wurden. Mieter werden bei Neuanmietung nicht über die Konsequenzen der Kostenmiete aufgeklärt, es werden Provisionen verlangt etc..

Hier kann nur dringend empfohlen werden, vor Anmietung das Wohnungsamt zum Status der angebotenen Wohnung zu befragen.

3. Was gedenken der Bezirk und das Land Berlin zu tun, um eine Verdrängung dieser Einwohner_ innen Friedrichshain-Kreuzbergs aus dem Bezirk zu verhindern?

Antwort:

Die Zahl der Haushalte, die diese Wohnungen nicht mehr bezahlen können, wird größer. Die Nachfrage und damit der Verdrängungsdruck durch Haushalte mit gutem Einkommen und entsprechenden Erwartungen an guten Wohnraum wird größer.

Personenkreise, die auf bestimmte Standards angewiesen sind, werden keine geeigneten und bezahlbaren Wohnungen mehr finden (z. B. Rollstuhlfahrer, Senioren). Um nicht als Mietschuldner auf dem Berliner Wohnungsmarkt chancenlos zu bleiben, ist für viele Mieter hier große Eile geboten.

Es ist nicht möglich, den betroffenen und mittels Mieterhöhung vertriebenen Mietern angemessenen Wohnraum zu vermitteln. Das, obwohl die Senatsverwaltung beispielsweise im Fanny-Hensel-Kiez eine Mieterberatungsgesellschaft beauftragt hat und die Wohnungsbaugesellschaften bereit waren, die Mietkosten zu senken.

Es sind nicht genügend Ausweichwohnungen vorhanden. Die Wohnraumversorgung der betroffenen Mieter scheitert in vielen Fällen an den als angemessen angesehenen Mietkosten gem. AV Wohnen, weil in vielen Fällen Mieter auf Transferleistungen angewiesen sind. Die Anpassung der AV Wohnen ist dringend erforderlich. Alternativstandorte können nicht benannt werden, da der gesamte Berliner Wohnungsbestand vom Wegfall der Anschlussförderung betroffen ist.

In den einzelnen Berliner Bezirken sind jeweils in:

Pankow 4.665

Mitte 3.707

Neukölln 3.401

Tempelhof-Schöneberg 2.898

Lichtenberg 2.439

Friedrichshain-Kreuzberg 2.246

Reinickendorf 2.170

Spandau 1.825

Treptow-Köpenick 1.643

Steglitz-Zehlendorf 1.130

Charlottenburg-Wilmersdorf 1.060

Marzahn-Hellersdorf 810 Wohnungen betroffen.

Der Bezirk hat keine Möglichkeiten, dem Verdrängungsprozess entgegenzuwirken. Hilfe und Unterstützung der Betroffenen sind nur in wenigen Einzelfällen möglich. Zur Beantwortung dieser Frage ist die Landespolitik in die Verantwortung zu nehmen.

Nachfragen:

1. Hält es das Bezirksamt für sozial gerechtfertigt und im Sinne des Anspruchs auf gesellschaftliche Teilhabe wie es die Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen vorschreiben, wenn diese Menschen aus Friedrichshain-Kreuzberg verdrängt werden?

Antwort:

Die Verdrängung hilfe- und pflegebedürftiger (sowie auch aller anderen) Menschen aus dem Bezirk ist natürlich nicht sozial gerechtfertigt. Berlin muss sich wieder zur Aufgabe der Daseinsvorsorge bekennen. Die heutige Situation stellt sich jedoch so dar, dass es eine ausreichende Versorgung aller Bürger/innen dieser Stadt mit bezahlbarem Wohnraum nicht mehr gibt.

Trotzdem ist jeder m² Wohnfläche im Bestand der Gesellschaften und Genossenschaften zu halten. Die Bedeutung der Wohnungsbaugesellschaften zeigt sich in der erwirtschafteten Stadtrendite. Über die Bedeutung der Wohnungsbaugenossenschaften braucht man an dieser Stelle nicht zu reden. Da die Mieten in dieser Stadt offensichtlich nicht mehr zu reduzieren sind, bleibt nur noch übrig, die als angemessen geltenden Mietkosten an die Realität anzupassen.

Die Konsequenzen des Wegfalls der Anschlussförderung sind nochmals rechtlich zu würdigen. Die aktuelle wohnungspolitische Situation wird von der Landespolitik nicht wahrgenommen bzw. nicht akzeptiert. Die Ursachen liegen in dem politisch gewollten Ausstieg aus der Wohnungsbauförderung.

Mit der Vermarktung der städtischen Wohnungsbestände ist der Wohnungsmarkt für Spekulanten geöffnet worden und die Mietenentwicklung zeigt deutlich, dass die „breiten Schichten der Bevölkerung“ nicht mehr im Fokus der Wohnungspolitik stehen.

Mit freundlichen Grüßen

Jutta Kalepky

Dez BWI

Fragestellerin: Marianne Burkert-Eulitz

Bündnis 90/Die Grünen

Friedrichshain-Kreuzberg, den 29.09.10