Plädoyer für einen innovativen Umgang mit einem Freiheitsdenkmal

Nach Fertigstellung umfangreicher Sanierungsarbeiten wurde Anfang November 2009 die East Side Gallery in Friedrichshain-Kreuzberg in Berlin der Öffentlichkeit wieder „wie neu“ übergeben. Die denkmalgeschützte ehemalige Berliner Hinterlandsicherungsmauer an der Mühlenstraße wurde betonsaniert, die Wandbilder der East Side Gallery auf dem neuen Beton frisch aufgemalt. Die der Spree zugewandte Rückseite der East Side Gallery erstrahlt seitdem über 1,3 km Länge in hartem weiß. Auf Initiative der Grünen hat die Bezirksverordnetenversammlung (BVV) von Friedrichshain-Kreuzberg im Dezember 2009 beschlossen, eine künstlerische Gestaltung dieser weißen Wand – der sogenannten West Side Gallery – zu ermöglichen.

Die künstlerische Bespielung der West Side Gallery soll temporär sein, sich konzeptionell und passgenau mit diesem Mauerabschnitt, seinem stadträumlichen und historischen Kontext auseinandersetzen. Sie soll sich unterschiedlicher künstlerischer Ausdrucksmedien und –formen bedienen. Im Rahmen eines öffentlichen Kunstwettbewerbes sollen von einer qualifizierten Fachjury die besten Gestaltungskonzepte ermittelt werden. Ziel der InitiatorInnen ist es, dergestalt eine zeitgenössische Auseinandersetzung mit diesem Ort und seiner Geschichte im Medium der Künste anzustoßen. Während die Wandbilder der East Side Gallery den künstlerischen Umgang mit der Berliner Mauer im Jahre 1990 bezeugen, könnte die Auseinandersetzung mit Themen wie „Mauer“ und „Mauerfall“, „Teilung“ und „Grenze“ auf ihrer Rückseite mit aktuellen künstlerischen Annäherungen und Reflexionen kontrastiert und ergänzt werden. Eine künstlerische Bespielung der spreeseitigen Mauer wäre weit mehr als eine Plattform für zeitgenössische Kunstpositionen. Hier könnten zugleich Beiträge für eine lebendige Erinnerungskultur entstehen, die auch der Geschichtsvermittlung zugute käme.

Die Fiktion der weißen Wand und der “Schrecken der Mauer“

Das Vorhaben West Side Gallery ist jedoch umstritten. In einer Anhörung des Kulturausschusses der Bezirksverordnetenversammlung wurden von Senatsseite und vom Verein East Side Gallery folgende Einwände vorgebracht: Die East Side Gallery sei ein „zeitgeschichtliches Dokument“, das durch eine zeitgenössische künstlerische Gestaltung der Rückseite nicht „überformt“ werden dürfe. Um ihren Denkmalcharkter nicht zu „zerstören“, müsse die Rückseite weiß bleiben. Während die Bilder der East Side Gallery für die Freude über den Mauerfall stehen, soll die weiße Rückseite an „staatliches Morden“ erinnern, den „Schrecken der Mauer“ verkörpern. Diese „Doppelgesichtigkeit“ sei für das Denkmal wesentlich. Die East Side Gallery sei eine der größten Touristenattraktionen Berlins. Die Berlin-Touristen kämen dorthin, um die „Originalmauer“ zu sehen.

Ästhetisch-emotionalen Zugang zu Mauergeschichte(n) ermöglichen

Als Erwiderung auf die Kritik einer West Side Gallery gab die Wissenschaftliche Mitarbeiterin des Lehrstuhls für Denkmalpflege der Brandenburgischen Technischen Universität, Dr. Anke Kuhrmann, in der Ausschussanhörung zu bedenken, dass aufgrund der erfolgten Betonsanierung sowohl an dem Baudenkmal „Berliner Mauer“ als auch an der Bildergalerie an der Mühlenstraße die authentische Denkmalsubstanz weitgehend verloren sei. Die Sanierung habe die East Side Gallery in einen so nie da gewesenen Zustand  versetzt, da es hier weniger um die authentische Denkmalsubstanz, sondern vielmehr um die Herstellung eines Erscheinungsbildes eines bestimmten historischen Zustandes gegangen sei. Bei dem weißen Anstrich der spreeseitigen Wandfläche handelt es sich um eine Referenz an die Originalfarbe dieser Seite der historischen Mauer, die während der Existenz der Berliner Mauer dazu diente, dass Flüchtlinge im Todesstreifen besonders gut zu erkennen waren. Die Farbe ist aber nach der Sanierung eben nicht mehr original, sondern nur eine Referenz, die erinnern soll. Denkmalpflegerisch gesehen, kann die weiße Farbe daher nach Ansicht Frau Dr. Kuhrmanns jederzeit übermalt und nach einer temporären künstlerischen Gestaltung wieder neu aufgemalt werden. Bespielungsphasen könnten sich also problemlos abwechseln mit Phasen, in denen den Wünschen der Berliner Denkmalpflege entsprochen und die weiße Wand  wieder hergestellt würde.

Frau Dr. Kuhrmann erinnerte daran, dass es in Berlin 26 verschiedene denkmalgeschützte Mauerorte (Wachtürme und Mauerabschnitte) gibt, die gemäß dem Mauergedenkkonzept des Berliner Senates ganz heterogene Bedeutungen und Funktionen haben. Sie erläuterte, dass die East Side Gallery zum einen als längster erhaltender Abschnitt der Berliner Mauer unter Schutz gestellt wurde. Die Bildergalerie sei aber vor allem ein Denkmal der Überwindung der Teilung, was sich in der künstlerischen Aneignung der einstigen “Hinterlandmauer” manifestierte. Nach ihrer Ansicht ist es dieser “immaterielle Charakter” der East Side Gallery – der künstlerische Transformationsprozess, die Bemalung als Sinnbild der Freude über den Mauerfall – der den Denkmalwert dieses Mauerdenkmals ausmache. Auch das Mauergedenkkonzept des Senats stellt diese Denkmalssicht in den Vordergrund, heißt es doch: “Sie (die ESG) ist kein Ort der Erinnerung an Schrecken und Opfer der Mauer, sondern an die euphorische Maueröffnung und die damit verbundene ästhetische Aneignung der Betonmauer.”   Dieser Zeugniswert würde aus denkmalpflegerischer Sicht durch die künstlerische Bespielung  der weißen Rückseite nicht zerstört. Ganz im Gegenteil: eine West Side Gallery würde an diesen immateriellen Denkmalwert anknüpfen und  diesen Gedanken in die Gegenwart fortführen.

Das Ansinnen der West Side Gallery, sich künstlerisch mit dem Ort und seiner Geschichte aus heutiger Perspektive auseinandersetzen, steht nicht im Widerspruch zur East Side Gallery. Vielmehr würde damit auf der Rückseite des „historischen Dokuments“ ein lebendiger zeitgenössischer Produktions- und Reflexionsort geschaffen, der gerade einem jungen, internationalen Publikum einen ästhetisch-emotionalen Zugang zur Mauergeschichte eröffnet.

Öffentlicher Wettbewerb als Medium des Diskurses Durch die Ausschreibung eines öffentlichen Kunstwettbewerbes für die Gestaltung der weißen Wand wären alle Interessierten eingeladen, sich Gedanken zu machen – von der Schulklasse im Kiez bis zur international renommierten KünstlerIn. Im Rahmen der Juryberatungen fänden kontinuierlich Fachdiskussionen anlässlich der gestalterischen Entwürfe statt. Die Präsentation der Ergebnisse würde regelmäßig zu weiteren Debatten in der Öffentlichkeit führen. Dergestalt könnte Kunst im öffentlichen Raum auf unterschiedlichen Diskursebenen Denkanstöße geben und mit zeitgemäßen künstlerischen Mitteln zu einer lebendigen Erinnerungskultur beitragen.

Mut zur Zeitgenossenschaft

Mit der Ergänzung durch die West Side Gallery hätte das Freiheitsdenkmal an der Mühlenstraße nicht nur musealen Charakter, sondern würde zugleich zum aktuellen Denk-Zeichen transformiert. Das spannungsreiche Zusammenspiel von Vorder- und Rückseite könnte eine wirkliche Bereicherung darstellen – für die Kunststadt Berlin, für die Erinnerung an die Überwindung ihrer politischen Teilung sowie für die BesucherInnen Berlins, die sich von historischen und zeitgenössischen ästhetischen Mauer-Positionen zu eigenen Reflexionen und weiterer Erkundung der Geschichte anregen lassen könnten.

Damit dieser innovative Umgang mit dem Mauerdenkmal realisiert werden kann, muss bei Berliner Denkmalschützern aber noch viel Überzeugungsarbeit geleistet werden. Der denkmalpflegerisch verordnete „Schrecken der Mauer“ muss erneut überwunden werden – zumindest zeitweilig.

Elvira Pichler, Kulturpolitische Sprecherin, Bezirksverordnete