Die Idee eines Grundeinkommens gehört zu den großen Utopien unserer Zeit. Die Pandemie hat die Debatte belebt. Wir Grüne schlagen in unserem neuen Grundsatzprogramm vor, mit einer Garantiesicherung das Elend von Hartz IV zu überwinden und uns an der Leitidee eines bedingungslosen Grundeinkommens zu orientieren.

Wenn wir das umsetzen können, wird es spannend. Unser Modell ist gewiss nur ein Einstieg, aber dennoch ein großer Schritt, weil die Richtung stimmt. Wir brauchen ein neues Sicherheitsversprechen, das verlässlich ist und mehr sozialen Ausgleich schafft, selbst wenn es vorerst nur für Erwerbslose und arme Menschen wirksam werden sollte.

Ein Grundeinkommen schafft nicht allein mehr existenzielle Sicherheit. Um dieses „Mehr“ zu erkunden hat Adrienne Goehler – Gründungsmitglied der Grünen und ehemalige Senatorin für Kultur, Wissenschaft und Forschung – ein beeindruckendes Buch vorgelegt, in dem sie anhand von Expertengesprächen ein auskömmliches Einkommen für alle als die notwendige Voraussetzung für nachhaltige Wirtschaftsformen und entschleunigte Lebensweisen beschreibt. Ihr Credo: Die ökologische Transformation wird nur mit mehr sozialer Gerechtigkeit gelingen!

Mit diesem Perspektivwechsel verknüpft sie zwei  Diskurse, die bisher viel zu wenig Berührung miteinander hatten. Der ungewöhnliche Titel ihres Werks bringt es auf den Punkt:  „Nachhaltigkeit braucht Entschleunigung braucht Grundein-/auskommen ermöglicht Entschleunigung ermöglicht Nachhaltigkeit.“  Ein „Grundauskommen“, weil es neben dem  Geld vor allem auch um den Abbau von Ängsten, verträgliche Lebensweisen und letztlich die persönliche Zufriedenheit geht.  Wer sich um sein Auskommen sorgen muss, dessen Zeit und Energie kann leicht zerfasern. Welche alternativen Anerkennungs- und Beteiligungschancen kann eine Gesellschaft ihren Bewohner*innen bieten, wenn traditionelle Erwerbsarbeit knapper oder unzumutbar schlecht bezahlt wird, zumal sehr viele notwendige Arbeiten bis heute gänzlich unbezahlt bleiben?

Die Pandemie hat zu der neuen Aktualität der Grundeinkommensidee beigetragen. Sowohl die verschiedenen Existenzängste nicht allein der Selbständigen, sondern auch die unerwarteten Irritationen des alltäglichen Lebens mit Covid19 haben vielen Menschen deutlich gemacht, welche Risiken uns begleiten, auf welchen Stress und welche Routinen wir in unseren Hamsterrädern gut und gerne verzichten können, aber auch wie schnell es zu Abstürzen kommen kann.

Ein bedingungsloses Grundeinkommen sei  nicht finanzierbar, heißt es. Werden die Menschen dann auf der faulen Haut liegen? Das finnische Experiment in den Jahren 2017/18 hatte allerdings zum Ergebnis, dass die Personen mit Grundeinkommen sogar mehr arbeiteten als vorher. In Spanien wurde es 2019 sofort mit der Pandemie für ärmere Familien eingeführt. Die bisher sehr begrenzten Erfahrungen – wie etwa aus dem Berliner Modellversuch – liefern keine seriösen Prognosen, wie eine ganze Gesellschaft darauf reagiert. In bundesweiten Umfragen befürworteten zwischen 52 und 62% der Deutschen ein Grundeinkommen, also auch sehr viele Erwerbstätige, die gewiss auch die Unsicherheiten im Hinblick auf die Folgen der Digitalisierung (Arbeit 4.0) vor Augen haben.

Heute kommen wieder verschüttete, existenzielle Fragen auf, die der Soziologe Hartmut Rosa in Goehlers Buch ganz schlicht stellt: „Wie treten wir zueinander in Beziehung? Aber auch: Wie treten wir zu uns selbst in Beziehung? Und was für ein Verhältnis haben wir zur Welt und den Dingen in ihr?“ Eine existenzielle Grundsicherung  „befriedet unser In-der-Welt-Sein, so dass es überhaupt wieder möglich ist, in Resonanz zu kommen – mit uns selbst, mit der Welt, mit der Natur“ (Rosa). Heute haben wir es aber mit wachsender sozialer Ungleichheit und Armutsrisiken zu tun, die auch Ressentiments und Hass befeuern und denen wir mit politischen Ideen entgegen treten wollen.

Die Grundeinkommensidee wird sich gewiss nur schrittweise realisieren lassen: für bestimmte Personengruppen oder lokale Kontexte. Aber sie ist längst auch zu einer internationalen Herausforderung geworden. Die UN-Entwicklungsbehörde UNDP fordert mit ihren 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung, Armut in all ihren Formen und überall zu beenden und will ein Grundeinkommen für die ärmsten Menschen auf der Welt einführen – zeitlich begrenzt, aber ab sofort.  Der UN-Chef António Guterres schlägt einen Schuldenstillstand für die Entwicklungs- und Schwellenländer vor. Fast drei Billionen Euro müssen diese gegenwärtig pro Jahr aufbringen, um Schulden zu tilgen. Eine Summe, mit der Millionen Grundeinkommen über Jahre finanziert werden könnten.

Tatsächlich gab und gibt es in mehreren Ländern längst Pilotprojekte mit einem Grundeinkommen, wie etwa in Namibia. Bereits 2008 und 2009 wurden in Otjivero-Omitara Erfahrungen mit einem Grundeinkommen gesammelt, die zeigen, dass vor allem Frauen ihren Alltag grundlegend verändern konnten. Waren sie bisher darauf angewiesen, Mikrokredite bei ausbeuterischen Unternehmern aufzunehmen, gelang es ihnen mit dem Grundeinkommen, ihre gemeinsamen Unternehmungen zu festigen. Neue Tätigkeitsfelder von der Tagesmutter bis zur Schneiderin entstanden, die Frauen sorgten als erste dafür, dass ihre Kinder in die Schule gingen. Danach begannen sie, kleine Garküchen, Lebensmittelläden oder eine Schokoladenmanufaktur aufzubauen. Und sie kauften gemeinsam mehr Tiere, weil damit auch die Anzahl der Jungtiere steigt. Wo Frauen die Kontrolle über das Geld hatten, ging es mit der Wirtschaft aufwärts. Man sieht an diesem Beispiel einmal mehr, dass es beim Grundauskommen gar nicht allein um das Grundeinkommen geht!

Adrienne Goehlers Buch ist eine glückliche Fundgrube für Engagierte, die wissen möchten, wie sich die Arbeit und das Leben in sehr verschiedenen Kontexten durch ein Grundein/auskommen ändern könnten. Denn: Alle Versuche zu einem Grundeinkommen sind bisher Experimente, aber sie können als Vorschein auf eine realistische Utopie gelten.

Wolfgang Lenk, Fraktionär für den Stachel, Dezember 2020