Eine andere Erzählung der Migration in Deutschland.
Fraglos tut sich Deutschland seit 1945 ohne Unterbrechung schwer mit Einwander*innen und Vielfalt. Migration wird bis heute beargwöhnt und noch immer durch die „ethnokulturelle Brille“ betrachtet. Doch wie lassen sich die letzten 75 Jahre mit dem Blick auf das Gelingende und die – mitunter fast unmerklichen – Zivilisierungsgewinne erzählen?
In seinem Buch „Das neue Wir“ untersucht der Historiker und Migrationsforscher Prof. Jan Plamper auf sehr anschauliche Weise die einzelnen Phasen und Themen dieser Streitfragen. Denn das Besondere an seiner Untersuchung besteht in der Verknüpfung von langfristigen historischen Prozessen mit den Erfahrungen von Einzelnen, den aufgezeichneten Erzählungen der Dazugekommenen. Es sind diese Stimmen und Geschichten, die Geschichte lebendig machen.
Die ungehobelten deutschen Manieren
Bevor er zur Gegenwart kommt, gibt Plamper einen Abriss der deutschen Überseemigration vom frühen 16. Jahrhundert bis zu den großen Auswanderungswellen in die USA seit dem 18. Jahrhundert sowie nach Brasilien und ins zaristische Russland. Besonders in den USA scheinen sich die deutschen Migranten damals selbst eine „ethnokulturelle Brille“ aufgesetzt zu haben: Sie blieben lieber unter sich, bildeten Parallelgesellschaften, deutschsprachige Schulen, pflegten ihre „ungehobelten Manieren“ (Benjamin Franklin) und umzäunten sogar ihre Häuser – damals sehr ungewöhnlich!
Eine heute wenig erinnerte Geschichte stellt der erste Einwanderungsschub nach 1945 dar. Er bestand aus zwölfeinhalb Millionen Vertriebenen und Aussiedler*innen, die keineswegs willkommen waren. In der Konkurrenz um Wohnraum und Arbeit wurden sie als schmutzig, primitiv, grundsätzlich unehrlich und faul abgewertet. Deutschland war damals die Drehscheibe der größten Migrationsherausforderung der europäischen Neuzeit, dennoch gelang die „Integration“ dieser riesigen Menschengruppe innerhalb von nur 6 Jahren! Heute kommt jede fünfte Deutsche* aus einer Vertriebenenfamilie.
Arbeitsmigration westdeutsch
„Die unglücklichsten Menschen auf dieser Welt waren die Ausländer, die erste Generation“, zitiert Plamper einen griechischen Gastarbeiter. Sparen wollten sie und dann zurück, nur war es am Ende oft zu spät. Mit den verschiedenen Anwerbeabkommen ab 1955 (Türkei 1961) kamen Arbeitskräfte mit geringen Qualifikationen und leisteten oft Schwerstarbeit z.B. im Bergbau, viele standen am Fließband, etwa bei Siemens in Berlin. Es wurde wenig deutsch gesprochen und kostenlos angebotene Sprachkurse gab es nicht. Die Kinder dieser Migrant*innen lernten dann besser mit der Zerrissenheit umzugehen, obwohl sie immer wieder mit Fragen wie „was bist Du eigentlich?“ belästigt wurden. Noch bis zum Ende des 20. Jahrhunderts waren Migrant*innen und ihre Kinder, die das Herkunftsland ihrer Eltern oft nur aus dem Urlaub kannten, „Ausländer“.
1973 hat die SPD/FDP- Regierung als Reaktion auf das Ende des wirtschaftlichen Booms einen Anwerbestopp beschlossen – aus Angst vor den Konflikten, die wir bis heute kennen. Dies führte in den zwei Jahrzehnten darauf einerseits zur Rückkehr von insgesamt etwa 11 Millionen Gastarbeiter*innen, andererseits zu einem wachsenden Familiennachzug derer, die bleiben wollten, etwa 3 Millionen. Ein Teil der Bleibenden begannen nun verstärkt, sich auf ein dauerhaftes Zusammenleben einzurichten, sich zu engagieren und auf Teilhabe zu pochen. Ein markantes Signal war der erste, vor allem von migrantischen Arbeiter*innen organisierte Streik in den Kölner Fordwerken, bei dem es um Lohnerhöhungen und Arbeitsbedingungen ging. Nachhaltiger war die beginnende Gründung von herkunftsbezogenen Sozial- und Kulturvereinen oder der Aufbau des ersten türkischen Theaters in der Bundesrepublik. Eine Welle von Restaurantgründungen und Kiosken begann das Bild der Städte zu verändern. Dennoch: auf den Erwerb einer Staatsbürgerschaft, und damit auf umfassende Teilhabe, war kaum zu hoffen, obgleich die Migrant*innen umfassend in die Sozialsysteme, die Arbeitswelt, die Gesundheitsversorgung, das Schulsystem und die Rentenversicherung integriert waren.
Viele verlorene Jahre
Insbesondere die 80er Jahre gelten als ein „verlorenes Jahrzehnt“. Plamper zitiert eine Umfrage, nach der 1979 noch 42% der Befragten für aktive Integrationsanstrengungen seitens der Politik plädierten, 1982 waren es nur noch 11%. Der Rechtsextremismus bekam Aufwind, es gab Brandanschläge. Das Asylrecht wurde verschärft. Auf der anderen Seite wurden z.B. die vietnamesischen Boat People sehr willkommen geheißen, sowie viele Pol*innen, die wegen des 1981 verhängten Kriegsrechts flüchteten, und Sowjetbürger*innen, die als begehrte Fachkräfte gesucht waren. In der Praxis galt das Modell einer arbeitsmarktbezogenen Zuwanderung, in der Rhetorik dominierte das Mantra „Wir sind kein Einwanderungsland“. Unterdessen belebten zahlreiche Bürgerinitiativen, Projekte und Gründungen wie Pro Asyl, die Amadeu Antonio-Stiftung oder die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD) das zivilgesellschaftliche Engagement gegen Rassismus und für Diversity und Zusammenhalt.
Willkommenskultur – von oben und von unten
In gewisser Weise war das neue Staatsangehörigkeitsrecht mit seinem Geburtsortsprinzip, das endlich am 1.Januar 2000 in Kraft trat, auch ein Stück Willkommenskultur. Jetzt war das endlich politisch klargestellt, aber in der Praxis fehlen noch immer viele Angebote. Was eine gelingende Dynamik der „Integration“ auszeichnet, sind attraktive Angebote mit echtem Gebrauchswert und keine Leitkulturdebatten oder gar Defizitlisten. Auch waren es eben die vielen Bürgerinnen und Bürger, die halfen, die zum Teil grotesken Defizite der Behörden abzumildern und sich konkret den Geflüchteten zuzuwenden. Eine aktuelle Untersuchung aus 2018 belegt, dass 19% aller Bürger*innen sich bis heute weiter für Geflüchtete engagieren. Und auch dies ist interessant: überdurchschnittlich viele dieser Engagierten sind ehemalige Vertriebene oder deren Nachkommen.
Wir haben noch gar nicht ganz begriffen, dass die Bundesrepublik trotz vieler verpasster Chancen mittlerweile eine erfolgreiche Einwanderungsgesellschaft ist, resümiert Plamper. Jedenfalls sind wir auf einem guten Weg dahin, trotz der aktuellen Polarisierungen in unserer politischen Kultur.
Weitere zentrale Themen dieses neuen Standardwerks der politischen Bildung in Sachen Migration: die ostdeutsche Arbeitsmigration, Wandlungen in der Asylpolitik, die oft beargwöhnten Russlanddeutschen sowie die jüdische Einwanderung seit 1989.
Prof. Jan Plamper: Das neue Wir. Warum Migration dazugehört: Eine andere Geschichte der Deutschen. 400 S., S.Fischer Verlag 2019
Am 17.10.2019 wird Prof. Jan Plamper sein Buch in thematisch gegliederten Abschnitten im Rahmen eines Workshops vorstellen und diskutieren: was hat funktioniert und warum? Welche Fehler können wir vermeiden? Braucht das „neue Wir“ eine kollektive Identität? Und zwar von 18-22 Uhr im Bildungswerk der Heinrich-Böll-Stiftung in der Sebastianstr. 21
Wolfgang Lenk, Bezirksverordneter für den Stachel September 2019