Auch im Jahr 1989 regierte im damaligen West-Berlin rot-grün. Der Stachel, die „Zeitung der Alternativen Liste für Demokratie und Umweltschutz“, erschien in einer Auflage von 40.000 Stück und titelte in seiner Mai – Ausgabe: „Der erste Mai Rot-Grün“.
Dort heißt es: „Rot-Grün steht für ein ökologisches Reformprojekt, für einen ökologischen Umbau der Industriegesellschaft, für den mündigen Bürger in einer gläsernen Stadt, in dem ein menschenwürdiges Leben für alle angestrebt wird. Hohe Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot, Fremdenfeindlichkeit, Neue Armut und Umweltzerstörung sind Herausforderungen, an deren Bewältigung der grün-rote Senat gemessen werden wird.“
Vor 30 Jahren? Klingt ziemlich aktuell …
Auch der 1. Mai ist natürlich Thema: „Ein Feiertag, der in den letzten beiden Jahren die Gemüter bewegt hat: Der 1. Mai in Kreuzberg!“ Die Geschichte der vorausgegangenen beiden Jahre wird rekapituliert:
„Nachdem 1987 SO 36 in Flammen stand, erwarteten wenige im letzten Jahr ein Revival. Die Anwohner zogen es vor, friedlich ihr Fest zu begehen. Das Interesse, den eigenen Kiez zu zerlegen, war gering.“ Und trotzdem: Stundenlang (jagten) Polizeikolonnen durch die Straßen: Auf der Suche nach Krawall, der sich nicht so recht einstellen wollte! Die Sicherheit der Bewohner war nicht von umherziehenden „Chaoten“ bedroht, sondern von wahllos prügelnden Polizeibeamten!
Für 1989 gilt unter dem neuen Senat eine neue Strategie: „Deeskalierende Einsatzkonzeptionen sind angesagt.“ Und weiter:
„Es ist ein allerdings eine Illusion zu erwarten, die Polizei unter dem neuen Senat würde Plünderern beim Tragen helfen. Aufgabe der Polizei ist es, von vorneherein klarzustellen und öffentlich kundzutun, was sie in welchen Situationen tun wird. Auch die Transparenz ihres Einsatzverhaltens ist eine wesentliche Forderung der Koalitionsvereinbarung.“
Ein Jahr später, im Mai 1990 – die Mauer war inzwischen gefallen – schreibt der Kreuzberger Stachel, mittlerweile mit dem Gender-Binnen-I:
„Obwohl Teile der Kreuzberger Bevölkerung und Stadtteilinitiativen aus Angst vor Randalen in diesem Jahr lieber ganz auf ein Fest verzichtet hätten, wurden Kreuzberger 1. Mai-Fest, -Demo und -Aktionstage geplant. Denn gerade angesichts des bevorstehenden Anschlusses der DDR an die westliche „Wohlstands“gesellschaft ist lauter Widerstand angesagt: Gegen Fremdenhaß und Nationalismus, gegen Frauenunterdrückung, gegen Verarmung und Ausgrenzung von immer mehr Erwerbslosen, Obdachlosen und SozialhilfeempfägerInnen.“
Vieles hat sich weiter entwickelt seither, und dennoch stellen sich im Grundsatz die Fragen und Probleme, wenn auch mit geänderten Voraussetzungen, immer wieder neu. Der Kampf für Gerechtigkeit und ein gleichberechtigtes Miteinander wird nie zu Ende sein. in diesem Sinne: Ein friedliches 1. Mai-Fest 2019.
Henry Arnold für den Stachel Mai 2019