Seit Cem Özdemir Bundesvorsitzender wurde, engagieren sich neuerdings immer mehr Menschen mit Zuwanderungsgeschichte in der Politik. Bei den Grünen in Kreuzberg hat das schon lange Tradition. Ein Portrait über Ersoy ?engül
Eigentlich wollte sich Ersoy gar nicht parteipolitisch engagieren. Aber der gebürtige Berliner mit anatolischen Wurzeln wollte sich einsetzen und für mehr Demokratie und bessere Menschenrechte in der Türkei kämpfen. Doch zu Beginn seiner Studienzeit an der TU Berlin wurde dem Diplom-Wirtschaftsingenieur endgültig klar, dass er mehr Einfluss nehmen kann, wenn er sich von hier für die Menschen hier vor Ort einsetzt. Daher ging Ersoy zunächst zu Immi-Grün, einem grünen Netzwerk für den Dialog zwischen den Kulturen. Auch, weil man hier gar nicht Parteimitglied sein musste.
Doch inzwischen ist Ersoy nicht nur Parteimitglied, seit Herbst 2006 sitzt er für die Grünen im Bezirksparlament von Friedrichshain-Kreuzberg. Hier setzt sich der 33-Jährige insbesondere für eine bessere Teilhabe der MigrantInnen an der Mehrheitsgesellschaft ein – auch wenn er die migrantische Community genauso sehr in der Pflicht sieht.
Als Mitglied in den Ausschussen für Beschäftigung und Jobcenter oder Integration und Migration geht es ihm konkret um die interkulturelle Öffnung des Jobcenters. Als ehemaliger Mitarbeiter kennt Ersoy schließlich genau die dortigen Probleme von MigrantInnen. „Gerade ihre Vorteile und Potenziale werden immer noch viel zu oft viel zu wenig berücksichtigt“, sagt er. Doch immerhin habe sich die Leitungsebene inzwischen einsichtig gezeigt – auch, wenn das noch immer nicht bei allen Mitarbeitern angekommen ist. Ersoy freut sich auch über solch kleinteilige Erfolge. Das gilt auch für seinen Job beim Türkischen Bund in Berlin-Brandenburg e.V. (TBB), bei dem er inzwischen Berufsberatung auf deutsch und türkisch macht.
Als Privatperson ist er ein Familienmensch im doppelten Sinne. Seine Eltern sind alevitische Zazas und stammen aus dem ostanatolischen Dersim. Alle paar Tage ist er bei ihnen zu Besuch, um gemeinsam zu essen und sich mit ihnen auszutauschen. Mit seiner großen Liebe, der Apothekerin Zeynep ist er seit 2006 glücklich verheiratet. Sie gibt ihm die nötige Ruhe und auch Denkanstöße für zukünftige Aktivitäten. Freunde sind ihm wichtig, qualitativ nicht quantitativ. Nicht selten war und ist er das Bindeglied zwischen verschiedenen Freundeskreisen. Nur beim Trivial-Pursuit-Spielen macht er sich keine Freunde – er ist einfach zu gut.
Ersoy findet es großartig, dass sich neuerdings immer mehr Menschen mit Zuwanderungsgeschichte in der Politik engagieren, seit die Grünen Cem Özdemir zum Bundesvorsitzenden wählten. „Dass er das geschafft hat, macht die türkischstämmige Community wirklich stolz“, sagt er. Die Folge: „Die Grünen haben noch mal an Glaubwürdigkeit gewonnen.“ Doch auch das sei nicht mehr als ein kleiner Zwischenspurt bei einem Marathon.
Ende März war Ersoy mit seinen Kollegen aus der grünen Fraktion im Bezirksparlament in Kiel beim Treffen des überparteilichen Netzwerks türkeistämmiger MandatsträgerInnen. Hier wurde ihm schnell klar: „Bei den Listenaufstellungen für die Wahlen müssen sich die Parteien anpassen und endlich mehr als den einen Alibi-Ausländer aufstellen.“ Im Bezirksparlament von Friedrichshain-Kreuzberg ist Ersoy immerhin einer von 3 der 22 Grünen mit Migrationshintergrund. „Für den Anfang nicht schlecht – aber auch wir müssen noch besser werden; angesichts eines viel höheren Migrantenanteils in unserem Bezirk“, sagt er als sanfter Krieger für mehr Integration auf beiden Seiten.
Yilmaz Uzun