Initiator*in: Alexandra Neubert, B’90/Die Grünen

Antrag

Die Bezirksverordnetenversammlung möge beschließen:

Das Bezirksamt wird aufgefordert, nach Maßgabe dieses Beschlusses und in Anerkennung der Klimanotlage durch den Berliner Senat am 10.12.2019 und der BVV in Friedrichshain-Kreuzberg am 28.10.2020 ein bezirkliches Entsiegelungskonzept zu erstellen, um somit dringend notwendige Maßnahme zur Anpassung an die Folgen der Klimakrise in die Wege zu leiten.
Das übergeordnete Ziel dieses Entsiegelungskonzepts ist die Entwicklung unseres Bezirks zur „Schwammstadt“ durch den Ausbau von Regenwasser-Versickerungsflächen. Die anschließende Begrünung der entsiegelten Flächen soll nicht nur den Erhalt und die Ausweitung des Straßengrüns bewirken, sondern vor allem die Bindung von CO2 sicherstellen, Kühlung bringen und unsere Klimaresilienz verstärken. Das Konzept soll aufzeigen, wo im Bezirk Handlungsbedarf besteht, Möglichkeiten zur Entsieglung angeben und einen ersten zeitlichen Horizont zur Realisierung bzw. eine Priorisierung der geplanten Maßnahmen enthalten. Ziel ist eine Reduktion versiegelter Flächen im Bezirk um 10 Prozent bis 2026.
Beteiligung der Wissenschaft und der Bürger*innen: Die Entwicklung des Entsieglungskonzeptes soll in wissenschaftlicher Begleitung erfolgen. Die Ergebnisse und Fortschritte der identifizierten Maßnahmen sollen in einem jährlichen Rechenschaftsbericht dokumentiert und der BVV vorgelegt werden. Es ist zu prüfen, ob Bürger*innenbeteiligungsformate dort ermöglicht werden können, wo Entsiegelungsmaßnahmen das Wohnumfeld besonders verändern. Die Nutzung vorhandener Programme und Finanzmittel des Senats zur Anpassung an den Klimawandel sollen noch weiter verstärkt werden.

Für das Entsiegelungskonzept sollen insbesondere folgende Maßnahmen berücksichtigt werden:

1. Parkplätze am Straßenrand: Laut der bezirklichen Potenzialanalyse ‚Mehr Grün für Friedrichshain-Kreuzberg’ (2019) versiegelt graue Infrastruktur 22,8% der Fläche Friedrichshain-Kreuzbergs. Der Berliner Durchschnitt liegt nur bei 9,6%, wobei es im Bezirk weniger Auto besitz gibt und auch weniger Strecken mit dem Auto zurückgelegt werden als es jeweils im Berliner Durchschnitt der Fall ist. In allen Fällen, in denen asphaltierte Straßen saniert, umgebaut oder umgewidmet werden, soll stets die Möglichkeit einer Entsiegelung geprüft und nach Möglichkeit realisiert werden. Besonders Parkplätze am Straßenrand sollen dabei:

  • teils durch Bäume/Baumscheiben ersetzt werden;
  • teils durch Pocket Parks ersetzt werden;
  • gemeinsam mit den Anwohner*innen in Beete für Urban Gardening umgewandelt werden.

2. Große Parkplätze: Parkplätze, die der öffentlichen Hand gehören (Polizei, Ämter, Ministerien) sollen weit möglichst entsiegelt, ökologisch gepflastert und begrünt werden, um als Vorzeigeprojekte private Eigentümer*innen von Parkplätzen (von Discountern, Baumärkten, Wohnhauseigentümer*innen, …) zu motivieren, dem Beispiel zu folgen. Ein entsprechender Austausch zwischen Bezirk und privaten Eigentümer*innen soll darauf aufbauend angestoßen und ausgebaut werden.

3. Ökologische Asphaltierung wenn keine vollständige Entsiegelung möglich ist: Besonders in Straßen mit nachweislichem Wärmeinseleffekt soll der Asphalt durch ökologische, durchlässige Pflasterung (z. B. Verbundsteine mit Grünaussparung) ersetzt werden. Die Verfügbarkeit von sicheren Radwegen muss dabei natürlich gewährleistet bleiben.

4. Abflusslose Straßenränder: Breite Straßen sollen durch Verdunstungsbeete bzw. bepflanzte Regen-Versickerungsflächen zwischen Straße und Bürgersteig abflusslos werden. Unter Umständen muss durch ein Tempolimit der Reifenabrieb so reduziert werden, dass Regenwasser gefahrlos in die Vegetation und ins Grundwasser gelangen darf. Hierbei sollten möglichst wenig aufwändige, skalierbare Maßnahmen entwickelt werden.

5. Baumscheibenvergrößerung: Eine Vergrößerung der Baumscheiben soll dort erfolgen, wo es möglich ist. Dies kann mit einer einfachen Umfassung erfolgen, welche Begrünung durch Anwohner*innen oder durch den Bezirk ermöglicht und dazu führt, dass in Hitzeperioden weniger gegossen werden muss. Im Falle starker Verdichtung durch z. B. Fußgänger*innen sollen Alternativen geprüft werden z.B. poröses, wasserspeicherndes Vulkangestein. In keinem Fall sollten bestehende Unzulänglichkeiten (wie zu kleine Baumscheiben …) wiederholt werden.

Das Bezirksamt wird aufgefordert, bei der Erstellung des Entsiegelungskonzeptes die im Anhang 1 beigefügten Standorte auf ihr Potential und Umsetzbarkeit zu prüfen. Diese Übersicht soll als Grundlage genommen, und bei Bedarf erweitert werden. Darüber hinaus soll die Erstellung des Konzeptes wissenschaftlich begleitet und durch zivilgesellschaftliche Anreize konkretisiert werden.

Begründung:

Der Klimawandel machte sich in den letzten Jahren in Berlin in Form von zu heißen und trockenen Frühjahrs- und Sommermonaten, niederschlagsarmen bzw. schneefreien Wintermonaten sowie wiederkehrender Starkregenereignisse bemerkbar. Der dicht besiedelte Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg mit einem Versiegelungsgrad von 64,4% (Berliner Mittel: 32,8%) heizt sich in besonderem Maße auf (Wärmeinsel-Effekt), was die Lebensqualität vieler Bürger*innen beeinträchtigt und zur erhöhten Sterblichkeit der älteren Bevölkerung führt. Zudem gerät das städtische Grün unter erheblichen Trockenstress, der nicht durch vereinzelte Starkregenereignisse ausgeglichen werden kann. Starkregen führt andererseits zu wiederkehrenden Überschwemmungen. Diese schädigen die städtische Infrastruktur und mindern die Wasserqualität, wenn über Mischwasserüberläufe verunreinigtes Wasser in die Oberflächengewässer gelangt. Die beschriebenen Effekte lassen sich wesentlich auf eine zu intensive Oberflächenversiegelung zurückführen, die in Friedrichshain-Kreuzberg doppelt so hoch liegt wie im Berliner Durchschnitt. Laut „Berliner Energie- und Klimaschutzprogramm 2030“ kann dem entgegengewirkt werden, indem Flächen entsiegelt werden. Eine systematische Entsiegelung öffentlicher und privater Flächen bringt folgenden Nutzen:

1. Auf unversiegelten Flächen kann Niederschlagswasser versickern. Da es nicht mehr in die Kanalisation abfließt, sinkt die Gefahr von Überschwemmungen, Infrastrukturschäden und Gewässerverunreinigungen.
2. Das vom Erdreich aufgenommene Regenwasser steht städtischer Vegetation zur Verfügung und mindert Trockenstress. Zusätzlich bildet sich neues Grundwasser (Schwammstadt-Prinzip).
3. Zusätzliche Vegetation auf neu entsiegelten Flächen (z. B. Straßenbäume) sorgt für Abkühlung im Sommer. Das verbesserte Mikroklima liegt sowohl am Schatten als auch an kühlender Verdunstung und der Filterung von Schadstoffen aus der Luft. Nötig ist dies vor allem in Straßen ohne Straßenbäume, die sich derzeit noch wie Hitzebänder durch den Bezirk ziehen.
4. Derzeit besteht in Friedrichshain-Kreuzberg ein erhebliches Defizit an öffentlichem und privatem Grün. Zusätzliches Stadtgrün auf entsiegelten Flächen verbessert die Lebensqualität der Bürger* innen.
5. Trotz der zunächst anfallenden Kosten für konkrete Entsiegelungsmaßnahmen wird der städtische Haushalt mittel- bis langfristig entlastet. Dies begründet sich mit geringeren Infrastrukturschäden durch Überschwemmungen, geringeren Bewässerungskosten für das städtische Grün, reduzierte hitzebedingte Gesundheitsschäden der Einwohner*innen oder weiteren Folgeschäden an Menschen, Flora und Fauna.

Folgerichtig wird sowohl im „Berliner Energie- und Klimaschutzprogramm 2030“ als auch im „Berliner Programm für nachhaltige Entwicklung“ auf den Nutzen konsequenter Entsiegelung hingewiesen. Auch die Regierungsparteien haben sich im Koalitionsvertrag dazu verpflichtet, jährlich ein Prozent der an die Mischwasserkanalisation angeschlossenen Stadtfläche von der Kanalisation zu entkoppeln – was nichts anderes bedeutet, als Flächen konsequent zu entsiegeln. Und nicht zuletzt bezeichnet das „BEK-Förderprogramm zur Klimaanpassung“ die Entsiegelung von Brachflächen sowie dezentrale Maßnahmen zur Regenwasserbewirtschaftung explizit als förderfähig. Dem Rechtsgutachten von Agora Verkehrswende „Öffentlicher Raum ist mehr wert“ von Dezember 2018, Seite 54, haben Gerichte zum Berliner Straßengesetz die Berücksichtigung des Klimaschutzes bei straßenbezogenen Belangen ausdrücklich gebilligt. (OVG Berlin, Beschl.
v. 16.8.2000, OVG 1 S 5.00; VG Berlin, Beschl. v. 23.1.2009, 1 A 358.08., OVG Berlin-Brandenburg, Urt. V. 3.11.2011, OVG 1 B 65,10.) Die Stadt Amsterdam hat im August 2019 beschlossen, innerhalb von fünf Jahren 11000 Parkplätze umzuwidmen. Das kann Berlin auch und sollte im am meisten verdichteten Bezirk beginnen. Es ist Zeit, dass der Bezirk im Rahmen der städtischen Klimaanpassung mit einem Entsiegelungskonzept reagiert.

Der BVV ist bis zum Sommer 2021 ein erster Konzeptentwurf vorzulegen.

Anhang 1: Tabelle „Entsiegelung_Orte_Maßnahmen“ enthält Entsiegelungspotential samt Fotodokumentation in 184 der 373 Straßen von Friedrichshain-Kreuzberg. Die Tabelle entstand in Anlehnung an das Fußwegkonzept. – siehe PDF zur Drucksache –

Friedrichshain-Kreuzberg, den 16.02.2021
Bündnis 90/Die Grünen
Antragstellerin: Frau Alexandra Neubert

PDF zur Drucksache mit allen vorgeschlagenen Orten