„Die Demokratie ist in der Krise.“ – diesen Satz hört und liest man seit längerem immer wieder. Aber was ist eigentlich damit gemeint? Ein Perspektivwechsel auf Demokratie, ihre „Krise“ und politische Teilhabe – im Gespräch mit einem*r Anarchist*in.

Stachel: Viele Personen haben Vorurteile, wenn sie das Wort „Anarchie“ hören. Wie würdest du jemandem „Anarchie“ erklären?

Charlie*: Anarchie beschreibt eine Gesellschaft ohne Herrschaft. Die Idee ist, dass alle Menschen das Recht besitzen, direkt an den für sie wichtigen Entscheidungen teilzuhaben – am besten auf direktem Weg. Ziel ist, abhängig von den eigenen Bedürfnissen mit anderen Menschen Vereinbarungen zu treffen, um das eigene Leben entsprechend zu gestalten – von den Menschen selbst und nicht „von oben“. Also Selbstverwaltung statt parlamentarischer Demokratie oder Bürokratie. Vereinbarungen und Solidarität sind notwendig, da Menschen als soziale Wesen voneinander abhängig sind.

Stachel: Was verstehst du aus anarchistischer Perspektive unter dem Begriff „Demokratie“?

Charlie: Demokratie kann eine Entscheidungsmethode sein, ein Staatsmodell, ein Symbol oder Wert. Sie bedeutet eigentlich Herrschaft des Volkes, was mit Anarchismus vereinbar ist, solange wir „Volk“ als alle hier lebenden Menschen definieren. Doch was sich heute alles Demokratie nennt, z.B. alle vier Jahre einen Zettel in eine Box werfen, ist weit davon entfernt. Es gibt viele Bereiche, auf die wir kaum oder keinen Einfluss nehmen können, z.B. die Wirtschaft. Ich kann ohne Aktionär*in zu sein, weder wählen, von wem, noch nach welchen Werten ein Unternehmen geführt wird. Die Klimakatastrophe zeigt uns, wie undemokratisch die Wirtschaft organisiert ist.

Stachel: Stichwort Repräsentanz und politische Teilhabe: Wie repräsentativ sind Demokratien deiner Meinung nach?

Charlie: Als Anarchist*innen wollen wir Repräsentanz vermeiden. Denn Menschen können sich am besten selbst vertreten. In Deutschland müssen sich Politiker*innen zum Beispiel nicht an ihre Wahlversprechen halten. Die meisten Menschen wählen das ihrer Meinung nach geringste „Übel“ aus dem, was ihnen nach parteiinternen Entscheidungen zur Wahl gestellt wird. Und selbst in einer Entscheidung wie dem Brexit – an der sich wirklich viele Menschen beteiligt haben – haben nur 26% der Bevölkerung mit „leave“ abgestimmt. Das hat mit Repräsentanz nicht viel zu tun.

Stachel: Welche Chancen bzw. Lösungsvorschläge bieten anarchistische Analysen bei den Problemen von Repräsentanz und politischer Teilhabe im Allgemeinen? Wie würdest du dir politische Teilhabe in einer Gesellschaft wünschen?

Charlie: In einer anarchistischen Gesellschaft werden alle Entscheidungen von denjenigen getroffen, die von diesen betroffen sind. Politische Teilhabe heißt, auf allen Ebenen unseres Lebens mitbestimmen zu können – in der Schule, auf der Arbeit, zu Hause, im Kiez und in der Stadt. Wo Menschen dies nicht selber können, z.B. weil sie von einem Thema zu wenig wissen, ist es wichtig, Informationen zugänglich zu machen. Wenn z.B. ein überregionales Gremium notwendig ist, arbeiten Delegierte nach dem ‚imperativen Mandat‘: Sie vertreten nicht ihre eigene Meinung, sondern die von den Menschen, die sie entsandt haben, und können jederzeit abgewählt werden.

Diese Gedanken sind hier zwar ziemlich kurzgefasst, aber gerade jetzt, wo viele auf der Suche nach Alternativen zum parlamentarischen System nach rechts blicken, wollen wir konkrete linke Utopien wieder greifbarer machen.

*ein selbstgewählter, non-binärer Name

Wer gerne mehr erfahren und in einen weiterführenden Dialog treten würde, kann sich hier melden: perspektive-sv@systemli.org

 

Das Interview führte Laura Eckl für den Stachel 07/2020