Warteschlangen, das Jobcenter und der Stadtneurotiker

“ A Clean House Is a Sign Of a Wasted Life“

Warteschlangen sind nicht überall, aber sie prägen das alltägliche Erscheinungsbild unserer Welt. Sie entstehen in der Regel dann, wenn etwas mehr oder weniger heiß zu schnell von zu vielen begehrt wird.

Das iPhone von Apple und der neue Harry Potter sind berühmte Objekte dieser manchmal sogar weltumspannenden Begierde. Beispiele, die, man könnte meinen, zu nichts anderem vorhanden sind, als den Überfluss dieser Gesellschaft zu kennzeichnen.

Denn wer braucht ernsthaft die Autobiographie Klaus Wowereits, zu dessen Signierstunde Berliner anstehen, die wie er der Meinung sind, nach der ersten Frau sei jetzt die Gesellschaft reif für einen schwulen Kanzler.

Oder sei es einzig der schnöde Mammon, wie im Fall der von Insolvenz-Gerüchten umschwirrten Northern Bank, wo von Verlust- und Existenzängsten gepeinigte kleine Sparer um ihren Notgroschen fürchten.

Doch in dieser Gesellschaft des Spektakels gilt auch hier: die im Dunkeln sieht man nicht. Wer will noch Bilder aus dem Lost Continent sehen, von lebenden Skeletten, nicht mehr in der Lage, überhaupt Warteschlangen zu bilden. Es reicht ja schon, wenn hierzulande der Medienzirkus aus fragwürdigen Motiven – im Zweifel für die Einschaltquote – das Faszinosum des Abstiegskampfes der sogenannten Unterschicht abbildet. Da wird in der ARD ein Gerichtsvollzieher von einem Türöffner und manchmal auch von einem Bodyguard zu den Zwangsräumungsterminen begleitet und findet es auch noch hoch spannend und geradezu sinnstiftend für seinen Job, mehrmals am Tag den Nervenkitzel zu erleben, welcher in der Beantwortung der Frage „Welches Schicksal verbirgt sich hinter dieser Tür?“ steckt. Sprach´s und fürchtet doch in Wahrheit nichts mehr als die positive Antwort auf eine ganz andere Frage: „Gibt´s jetzt was auf die 12 oder nicht?“

Ob nun Gerichtsvollzieher oder Hartz IV-Detektive die Hauptrolle spielen, in diesen selbsternannten Sozialreportagen ist die ausgesandte Botschaft meistens gleich: Selber Schuld! Überquellende Briefkästen und kippende Hygiene im Messiland sind doch effektheischender Beweis genug! Gesellschaftliche Ursachen? Der schleichende Prozess der Prekarisierung? Fehlanzeige!

II

y’know, in german they say Schlange stehen, which literally means, „snake to stand“

Warum die Deutschen als Bezeichnung für diese Form des Wartens die sonst doch eher für die Mythologie zuständige Schlange gewählt haben, erscheint nicht nur dem Engländer, der das Anstehen in höchster Disziplin geradezu zelebriert, nicht ganz geklärt. Allerdings nur, bis man einmal das Jobcenter Friedrichshain-Kreuzberg besucht hat, um dort im sogenannten Check-in-Bereich zu erleben, wie der im Verhältnis zum Andrang knapp bemessene Warteraum ganz unmythologisch genutzt wird. Der Menschenstrom wird hier auf engstem Raum in Form der Bewegungen einer Schlange hindurchgeführt, deren Erscheinungsbild durch ein halbes Dutzend Kehren geprägt wird; wie bei Serpentinen, bloß, dass es nicht nach oben geht.

Heißt es doch gemeinhin, dass man sich im Leben immer zwei Mal begegnet, so geschieht es hier, dass dieselben Menschen innerhalb von zwanzig Minuten sechs Mal aneinander vorbei laufen, bis sie schließlich auf die Bedienstationen der mit dem Rücken zur Wand sitzenden Sachbearbeiter verteilt werden.

Die Wartenden, zum überwiegenden Teil Hartz IV-Empfänger, verhalten sich gegensätzlich zur eigentlichen Struktur dieser Situation: sie kommunizieren nicht. Der Anlass ist offensichtlich zu niederdrückend.

Sie entsprechen in dieser interkommunikativen Eigenschaftslosigkeit allerdings der seit 1909 erstmals zur Dimensionierung von Telefonvermittlungsanlagen angewandten Warteschlangentheorie, die sich mit der mathematischen Analyse von Systemen beschäftigt, in denen Aufträge von Bedienungsstationen bearbeitet werden. Sie hat Bedeutung bei der Analyse von Computern, Telekommunikationssystemen, Verkehrssystemen, Logistik und Fertigungssystemen. Je nach Anwendungsbereich haben die abstrakten Begriffe Auftrag bzw. Bedienungsstation sehr unterschiedliche Bedeutungen.

III „Lost time is never found again.“ – Benjamin Franklin. „Time Is On My Side.“ – The Rolling Stones.

„Soll hier eigentlich jeder in der Schlange über die Häufigkeit unseres Geschlechtsverkehrs informiert werden?“ echauffiert sich der TV-Komiker Alvy Singer (Woody Allen) gegenüber seiner leicht konfusen aber reizenden Begleiterin Annie Hall (Diane Keaton), um einen lautstarken Disput über Sexualität zu beenden.

Nur um wenig später erneut in kaum zu verbergende Erregung zu verfallen, als in der Warteschlange zur Kinokasse, unmittelbar hinter den beiden, ein junger Universitätsprofessor offensichtlich Unerträgliches in ähnlich verfehlter Lautstärke zum Besten gibt. Dieser schwadroniert so haarsträubend oberflächlich und unzutreffend über den kanadischen Kommunikationstheoretiker Marshall McLuhan(The Medium is the Message), dass der entnervte Alwy Singer schließlich nicht anders kann, als mit einer entschieden vorgetragenen Belehrung einzugreifen.

Nicht genug damit, noch bevor der Zurechtgewiesene so richtig reagieren kann, verlässt Singer-Allen die Warteschlange, geht ein paar Schritte zu einem mannshohen Werbeständer und holt dahinter keinen geringeren als McLuhan höchstselbst hervor, der offensichtlich die Szenerie von dort verfolgt hat und nun seinen Auftritt genießt. Im souveränen Bewusstsein seiner Autorität entscheidet er und bestätigt zu dessen sichtbarer Befriedigung Singer´s Sichtweise auf seine Theorie.

Diese Szene, in ihrem Surrealismus an den katalanischen Regisseur Luis Buñuel erinnernd, findet sich im „Stadtneurotiker“, einem mit vier Oscars gewürdigten Meisterwerk Woody Allen´s.

axel w. urban