Alle Jahre wieder scheint es sich zu wiederholen: Studierende gehen auf die Straßen, skandieren "Reiche Eltern für alle" und "Bildung für alle, und zwar umsonst!", wollen den Bachelor, Studiengebühren und Anwesenheitskontrollen abschaffen
Die Bolognaerklärung, die in den Augen vieler an der gesamten Misere Schuld ist, wurde gerade zehn. Einige wenige nationale Bildungs- bzw. Wissenschaftsministern machten damals den Vorstoß, der steigenden Amerikanisierung der Hochschulsysteme die Idee eines geeinten europäischen Hochschulraumes entgegenzusetzen, in dem Mobilität, Vergleichbarkeit der Abschlüsse, Qualitätssicherung und -entwicklung im Bereich Studium und Lehre selbstverständlich sein sollten. Eine zweistufige Studienstruktur sollte einerseits sicherstellen, dass relativ frühzeitig auch (!) ein Abschluss erworben werden kann, mit dem man in den Beruf gehen kann, und andererseits individuellere Profile und eine bessere Verteilung von Phasen formaler Bildung auf die individuelle Biografie ermöglicht wird.
Mobilität und Profilierung funktionieren nicht
Wer das heute so liest und weiß, wie die Realitäten aussehen, muss sich ziemlich veräppelt vorkommen. Denn nahezu genau das Gegenteil ist an den bundesdeutschen Hochschulen offenbar eingetreten. ‚Mobilität’ ist ein schlechter Witz, wenn es nicht einmal gelingt, innerhalb eines Bundeslandes Scheine oder Prüfungen anerkannt zu bekommen. Und individuellere Profilierung ist schlicht nicht möglich, wenn Wahlfreiheit und Selbstbestimmung im Studium schlicht abgeschafft werden. Ohnehin ist bei der ‚Mutter aller Reformen’ deutlich vor allem eine Handschrift zu erkennen – die derjenigen, die schnelle, direkt marktlich verwertbare, billige und restriktiv organisierte Schmalspurstudiengänge lieben und schon immer gefordert haben. Denn dieser Teil der mit der Reform befassten Akteure hatte wenigstens einen Plan und ein eindeutiges Ziel.
Politik hat sich zu lange zurückgelehnt
Viele andere, von Hochschulleitungen über die Lehrenden selbst zu den ministerialen Verwaltungen und den mitwirkenden Studierenden wurden einfach im Regen stehen gelassen. Das zumindest ist das Ergebnis eines Werkstattgespräches, dass die grüne Abgeordnetenhausfraktion schon im Sommer 2008 veranstaltet hat. Ohne klare Ziele und Vorgaben auf rechtlicher Seite (zum Beispiel bezüglich der Module, der maximalen Anzahl von Prüfungsleistungen oder auch zur gegenseitigen Anerkennung von Studienleistungen), und ohne eine Finanzierung des höheren Betreuungsaufwandes in den neuen Studiengängen konnte das vielleicht auch nichts werden. Und gerade Politik hat sich zu lange zurückgelehnt und darauf gehofft, die notwendige Begleitung eines solchen Prozesses einfach outsourcen zu können – an die Akkreditierungsagenturen, deren Arbeit die Hochschulen auch noch selbst bezahlen müssen.
Selbstbestimmtes Lernen ermöglichen
Eines darf aber nicht aus den Augen geraten bei der Auseinandersetzung mit dem ganz akuten Problem Bachelor: Die Probleme im bundesdeutschen Bildungssystem sitzen tiefer. Die verpatzte Bolognareform ist eigentlich nur ein Symptom. Deswegen müssen wir als Grüne auch weiterhin daran arbeiten, das Grundproblem zu lösen. Zugang zu guter Bildung für alle, selbstbestimmtes Lernen und Lehren ermöglichen statt Prüfungsmarathon und Zeit absitzen mit Anwesenheitsliste, ausreichend Studien- und Ausbildungsplätze und eine elternunabhängige Absicherung der Bildungsphasen statt elitistisches Stipendiensystem, wie von FDP und CDU jetzt auf Bundesebene gefordert – das sind nur einige der Forderungen, die sich für uns logisch daraus ergeben müssen.
Es muss weiter protestiert werden
Das kostet Geld, das aber gut ‚investiert’ ist. Leider ist auch rot-rot nicht bereit, dieses in die Hand zu nehmen, wie die Hochschulverträge zeigen. Und: Kritisches Denken und Handeln, aber auch soziales und politisches Engagement sind Voraussetzung für ein demokratisches Gemeinwesen. Sie vertragen sich nicht mit einem Zwang zur Stromlinienförmigkeit und einem Wettbewerb im Schnellstudieren – „Hegels Dialektik verträgt nicht diese Hektik!“, wie am OSI auf einem Transparent steht. Stimmt. Deswegen muss weiter protestiert, aber auch in den akademischen Gremien und den Parlamenten daran gearbeitet werden, dass und bis sich endlich etwas ändert. Erste kleine Schritte werden gemacht, Anwesenheitskontrollen ausgesetzt und Studienpläne überarbeitet. Die soziale Öffnung der Hochschulen – übrigens auch eine Bolognareform-Forderung – braucht einen noch längeren Atem.
Anja Schillhaneck, wissenschaftspolitische Sprecherin, Mitglied des Abgeordnetenhauses