Drucksache 16/0798

Das Abgeordnetenhaus wolle beschließen

Der Senat wird aufgefordert, zur Bekämpfung und Verhinderung von Kinderarmut in Berlin über die bessere materielle Absicherung der Kinder aus einkommensschwachen Familien hinaus folgende Maßnahmen zu ergreifen:

  • Beseitigung von Bildungsbarrieren für Kinder aus benachteiligten und bildungsfernen Familien durch Festlegung des Rechtsanspruchs auf einen Teilzeitplatz (6-7 Stunden) in der Kitaverfahrensverordnung; den Eltern wird zum dritten Geburtstag der Kinder, die noch keine Kita besuchen, der Kita-Gutschein mit einem für den Kitabesuch werbenden Brief zugesandt;
  • Weiterentwicklung von Kitas zu Kinder- und Familienzentren sowie Unterstützung der Eltern, u.a. durch verstärkt niedrigschwellige und aufsuchende Sozialarbeit unter Einbeziehung von Fachkräften mit Migrationshintergrund; eine adäquate Ausstattung und interkulturelle Ausrichtung der Einrichtungen zur Elternbildung und Erziehungsberatung.
  • Sicherstellung einer ausreichenden Personalausstattung in den Jugendämtern und den Kinder- und Jugendgesundheitsdiensten für die Aufgaben aus dem „Konzept Kinderschutz“ (bessere Koordination und Vernetzung der Dienste und Einrichtungen, Erstbesuche, aufsuchende Familienhilfen, Vorsorgeuntersuchungen u.a,);
  • Qualifizierung des Personals in den Kindertageseinrichtungen und Schulen zur Frage der Armutsbekämpfung und -prävention sowie Ausbau der Schulsozialarbeit;
  • Sensibilisierung der pädagogischen Fachkräfte für das Entstehen von Armut und ihren Folgeproblemen und zielgruppenspezifische Vermittlung der Bedeutung von physischer und psychischer Gesundheit;
  • Finanzielle Entlastung einkommensschwacher Familien bei Ausgaben für Bildung, Sport und Kultur
  • Ausrichtung auf Geschlechtergerechtigkeit, indem Gender Mainstreaming bei Konzeption und Vollzug der Maßnahmen zur Bekämpfung der Kinderarmut angewandt wird.

Dem Abgeordnetenhaus ist bis zum 31.12.2007 zu berichten.

Begründung:

Die jüngste UNICEF-Studie hat erneut belegt, unter welch skandalösen Zuständen viele Kinder in Berlin leben müssen. Das Land Berlin rangiert im Bundesländer-Ranking auf einem der hinteren Plätze. Diese Erkenntnis ist nicht neu: In Berlin lebt ein Drittel der Kinder in Armut. Hier gibt es die meisten Schulabbrecher und Straßenkinder. Private Projekte zur Betreuung und Ernährung von Kindern wie die „Berliner Tafel“ und die „Arche“ haben inzwischen internationale Berühmtheit erlangt.

Am ärmsten sind die Jüngsten: Von 1000 Kindern unter drei Jahren bezogen 269 Sozialhilfe. Auffällig sind die bezirklichen Unterschiede: Die Spanne reicht von 115 Kindern je 1000 Kindern unter drei Jahren in Steglitz-Zehlendorf bis zu 407 je 1000 Kindern unter drei Jahren in Neukölln, gefolgt von Mitte, Marzahn-Hellersdorf, Friedrichshain-Kreuzberg und Spandau. Für die Kinder bedeutet das Leben in Armut eine dramatische Minderung ihrer Chancen auf einen guten Schulabschluss, auf ein Leben in Gesundheit, auf Teilhabe an sozialen und kulturellen Aktivitäten und ein entwicklungsförderndes und ausgeglichenes Familienleben. Arme Kinder sind – so das Ergebnis der Kinder- und Jugendgesundheitsstudie des Robert-Koch-Instituts – in „durchweg allen“ Bereichen von Gesundheit und Lebensqualität schlechter gestellt. Sie leiden häufiger unter Übergewicht, chronischen Krankheiten sowie psychischen Störungen und werden häufiger Opfer von Gewalterfahrungen und Unfällen.

Die alarmierenden Zahlen über die enorm anwachsende Kinderarmut in Berlin erfordern rasch eine konzertierte Kraftanstrengung, um Gerechtigkeit und Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft wieder herzustellen. Dabei sind die materiellen Fragen eng verknüpft mit Bildung, Gesundheit und Ernährung, Wohnen, Kinderschutz und gesellschaftlicher Teilhabe. Der Senat ist gefordert über die bessere materielle Absicherung (siehe Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen „Teilhabe sichern – Kinderarmut bekämpfen I: Kinder brauchen mehr) und die Sicherung der Teilnahme aller Kinder am Essen in den Ganztagsschulen (siehe Anträge „Gesundes Essen an gebundenen Ganztagsgrundschulen für alle Kinder sicherstellen“- Drs. 16/0577 und „Mehrbedarf für Schulessen anerkennen – Bundesratsinitiative des Saarlandes unterstützen“ – Drs. 16/0665 – hinaus Maßnahmen zu ergreifen, die diese Aspekte gemeinsam in den Blick nehmen, wirkungsvoll bestehende Armut und ihre Folgen abbaut und zukünftige Armut verhindert.

Kinder und Jugendliche brauchen eine faire Chance, ihre individuellen Potentiale zu entwickeln und zu entfalten, gesund aufzuwachsen, Bildungs- und Förderangebote wahrzunehmen und so eine gute Ausgangsposition für ihre weitere Lebensgestaltung und ihre berufliche Perspektive zu erhalten. Kinder, die unter Bedingungen von Armut aufwachsen, brauchen vielfältige Bildungsangebote und Anregungen jenseits ihrer Herkunftsfamilie. Sie benötigen Bildungsinstitutionen, die sie viel früher als bisher individuell und ganzheitlich fördern sowie Unterschiede beim Erwerb von Bildung abbauen.

Das bürokratische Antrags- und Bedarfsfeststellungsverfahren für den Kita-Gutschein erleben Eltern in der Praxis häufig als bürokratisch und restriktiv. Es wird hauptsächlich die Arbeitssituation der Eltern berücksichtigt, aber zu wenig vom Bildungsanspruch der Kinder ausgegangen. Dies trifft insbesondere die besonders förderbedürftigen Kinder aus sozial benachteiligten Familien oder nicht deutscher Herkunft, die überdurchschnittlich häufig keine Kita besuchen.

Um tatsächlich allen Kindern ab 3 Jahren das Angebot eines Kitaplatzes zu machen, erhalten alle Eltern den Kita-Gutschein für die „Bildungszeit“ (Teilzeitplatz) ohne Antrag zugeschickt, dazu einen freundlichen und verständlichen Info-Brief (auch in Herkunftssprachen – warum ist die Kita gut für mein Kind, wie finde ich eine Kita etc.). Das bürokratische Antragsverfahren entfällt und alle Kinder erhalten das Angebot die Kita zu besuchen.

Notwendig ist der Ausbau präventiver Angebote der Kinder- und Jugendhilfe, die sich speziell an arme Kinder und Familien richten. Die Kürzungen im Bereich der Kinder- und Jugendarbeit und der Hilfen zur Erziehung wie auch im Kinder- und Jugendgesundheitsdienst haben jedoch genau das Gegenteil bewirkt: Gerade Angebote und Projekte in Problemstadtteilen mussten eingeschränkt werden.

Insbesondere Eltern in prekären Verhältnissen und mit Migrationshintergrund müssen besser mit Beratungs- und Unterstützungsangeboten erreicht werden, damit sie Vorsorge- und Aufklärungsangebote stärker annehmen. Eine frühzeitige Risikoerkennung muss schon von Geburt an einsetzen und rasches und wirksames Eingreifen ermöglichen. Regelmäßige Untersuchungen und verstärkte Kooperationen mit Ärztinnen und Ärzten in Kindergärten sowie eine Stärkung der Kinder- und Jugendgesundheitsdienste können helfen, gesundheitliche Defizite früher zu erkennen, Eltern zu unterstützen und notwendige Maßnahmen einzuleiten. Elternbildung und Erziehungsberatung brauchen eine bessere Ausstattung, um die in sie gesetzten Erwartungen und zusätzlichen Aufgaben, z.B. als Kooperationspartner von Kitas als Kinder- und Familienzentren erfüllen zu können.

Von Armut betroffene Jungen und Mädchen gehen mit den Folgen unterschiedlich um. Maßnahmen zur Bekämpfung von Kinder- und Jugendarmut müssen diese geschlechtsspezifischen Differenzen aufgreifen.

Berlin, 4. September 2007

Eichstädt-Bohlig Ratzmann Herrmann Jantzen und die übrigen Mitglieder der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen