SA/255/IV Schriftliche Anfrage

Antwort von: Erledigt: 11.03.2015
Abt. Familie, Gesundheit und Personal Erfasst: 16.02.2015

Die Fragen 1-7 konnten nur mit freundlicher Unterstützung des Chefarztes der Kliniken Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik der Vivantes Klinikum am Urban und des Klinikum am Friedrichshain Prof. Dr. med. Andreas Bechdolf beantwortet werden.
Die Fragen 8-10 wurden durch die Planungs- und Koordinierungsstelle Gesundheit des Bezirksamtes beantwortet.

Ich beantworte Ihre Anfragen wie folgt:

1. Wie viele Patient*innen mit psychischen Erkrankungen und Migrationshintergrund
werden jährlich im Vivantes Klinikum am Urban stationär behandelt (Bitte nach Frauen und Männern aufstellen.)?

In den Kliniken für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik mit FRITZ am Urban
(Frühinterventions- und Therapiezentrum) des Klinikums Am Urban und des Klinikums im
Friedrichshain werden jährlich 4000 Patienten vollstationär behandelt. Von den  vollstationären Patienten haben 26 % einen Migrationshintergrund, in der tagesklinischen Behandlung 25,93 und in der Institutsambulanz 31 %. In der Gruppe der Migranten sind 60,14 % Männer und 39,86 % Frauen, während in der Gruppe der Nicht-Migranten 53,12 % Männer und 46,88 % Frauen sind. In der Gruppe der Migranten sind 47,55 % türkischsprachig, 9,79 % polnischsprachig, 8,04 % arabischsprachig, 7,34 % sprechen serbokroatisch und 6,29 % russisch. Die Inanspruchnahme psychiatrischer Behandlung von Menschen mit Migrationshintergrund ist geringer als vor dem Hintergrund des Bevölkerungsanteils (37,6 %) zu erwarten wäre.

2. Welche sind die häufigsten psychischen Erkrankungen, die bei ihnen festgestellt
werden?

In der Gruppe der Migranten ist die am häufigsten gestellte Diagnose eine Schizophrenie
(30,77 %), es folgen Substanzabhängigkeit (27,97 %), Angst- und Belastungsstörungen
(16,43 %), affektive Störungen (10,84 %) sowie Persönlichkeitsstörungen (8,04 %). Eine
Abweichung zu den Nicht-Migranten ergibt sich insofern, als Substanzabhängigkeiten in der Gruppe der Migranten deutlich seltener vorkommen, während Angst- und Belastungsstörungen deutlich häufiger auftreten.

3. Sind hier Veränderungen (bspw. Häufung bestimmter Erkrankungen) im Laufe
der letzten Jahre zu beobachten?

Die statistischen Auswertungen sind nicht ausreichend präzise, um eine Häufung bestimmter Erkrankungen im Laufe der letzten Jahre definitiv belegen zu können. Es ergibt sich aber der Eindruck einer steigenden Anzahl an posttraumatischen Belastungsstörungen in Zusammenhang mit der Behandlung von Flüchtlingen.

4. Wie viele Psychiater*innen, Psycholog*innen, Therapeut*innen, Ärzt*innen und
Gesundheits-und Krankenpfleger*innen mit Migrationshintergrund (MH) werden
im Vivantes Klinikum am Urban beschäftigt (Bitte nach Abteilungen und Stellenanteil auflisten)?

Unter den psychiatrischen Ärzten haben 18,75 % einen Migrationshintergrund, von den
Psychologen 20 %, Sozialarbeiter 12,5 %, Ergotherapeutinnen 0 % und Pflege11.9 %.

5. Wie wird verfahren, wenn Erkrankte mit geringen oder ohne Deutschkenntnisse
die Klinik aufsuchen?

Wenn Erkrankte mit geringen oder ohne Deutschkenntnisse in der Klinik behandelt werden, besteht der Standard in professionell gedolmetschten Einzelgesprächen. Dabei existiert eine besonders intensive Zusammenarbeit mit dem Gemeindedolmetschdienst. Weiterhin wird eine interne Liste mit Sprachkenntnissen der qualifizierten Mitarbeiter der Abteilung geführt, welche in nicht-planbaren Situationen zum Einsatz kommt. Darüber hinaus besteht noch ein computergestütztes Dolmetschsystem (KOMMA), in welchem standardisierte Formulare (Begrüßungsformeln, pflegerische Aktivitäten, psychiatrische Anamnese und anderes) in 12 Sprachen zur Verfügung stehen.

6. Verfügt das unter Pkt. 4 genannte Personal über Interkulturelle Kompetenzen?
(Bitte aufstellen, wie das Personal ggf. interkulturell geschult wird)

In der Abteilung existiert seit 10 Jahren eine Arbeitsgruppe Migration, welche sich im Besonderen um die Behandlung psychisch erkrankter Migranten kümmert. Zu den Aktivitäten der Arbeitsgruppe zählt insbesondere ein interkulturelles Training, welches alle drei Monate angeboten wird und welches für alle Mitarbeiter der Abteilung verpflichtend ist. Darüber hinaus werden fremdsprachige Therapieangebote koordiniert, aktuell existieren mehrere türkischsprachige Psychotherapiegruppen, u. a. mit der Spezialisierung auf depressive Patienten.

Des Weiteren existiert eine Kochgruppe für Migranten sowie ein Entspannungstraining
in türkischer Sprache, sowie türkischsprachige Einzeltherapie. Weiterhin gestaltet die AG Migration regelmäßig Fortbildungen für alle Mitarbeiter der Abteilung, bietet eine Intervisionsgruppe an und sorgt für die Vernetzung mit anderen Organisationen,
welche sich um die Versorgung von Migranten kümmern.

Zum Leitbild der Klinik gehört, dass bei Bewerbungen ein Migrationshintergrund als positives Qualifikationsmerkmal angesehen wird, dies gilt für sämtliche Berufsgruppen.

7. Wie ist der Betreuungsschlüssel von Patient*innen und dem behandelnden
Personal?

Der Betreuungsschlüssel von vollstationär behandelten Patient*innen und behandelndem
Personal liegt für die Pflege im Tagdienst bei etwa 7 zu 1 bei den Ärzten etwa bei 11 zu 1.

8. Wie bewertet das Bezirksamt die Versorgungssituation von psychisch Erkrankten
mit MH im Bezirk?

Aus Sicht des Bezirksamtes hat sich die Versorgungssituation von psychisch Erkrankten mit Migrationshintergrund in den vergangenen Jahren zwar verbessert. Sie bedarf aber eines weiteren Ausbaus auch im Hinblick auf bisher nicht beachtete Zielgruppen.
Aus der kleinen Anfrage „Integrationsgerechte Gesundheit in Berlin: Entwicklung der psychosozialen Versorgung von Migrantinnen und Migranten“ (Drucksache 16/15 315 des Abgeordnetenhauses von Berlin) geht hervor, dass der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund in Leistungen nach §§ 53/54 SGB XII im Jahr 2009 im Bezirk bei ca. 10 % lag.

Im Zeitraum von Januar 2012 bis Juli 2013 lagen die Anteile von Menschen mit Migrationshintergrund in Angeboten der regionalen psychiatrischen Pflichtversorgung (betreutes Einzelwohnen, therapeutische Wohngemeinschaft, Beschäftigungstagesstätte für Menschen mit Suchterkrankungen und psychiatrischen Erkrankungen) in Zusammenhang mit Leistungen nach §§ 53/54 SGB XII in Friedrichshain-Kreuzberg bei1

  • 17 % unter den Klient/innen mit psychiatrischen Erkrankungen
  • 7 % unter den Klient/innen mit Suchterkrankungen

Der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund in psychiatrischen Angeboten ist somit
in den vergangenen Jahren gestiegen. Dies weist auf Fortschritte im Bereich der interkulturellen Öffnung der Angebote in Friedrichshain-Kreuzberg hin.

Nichtsdestotrotz sind Menschen mit Migrationshintergrund in der regionalen psychiatrischen Pflichtversorgung statistisch unterrepräsentiert. Denn der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund an der Gesamtbevölkerung des Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg lag im Jahr 2013 bei 39 %.

Um die Versorgungssituation von psychisch Erkrankten zu verbessern ist es auf der Angebotsseite aus Sicht des Bezirksamtes nötig, den Anteil der Beschäftigten mit Migrationshintergrund in den Einrichtungen der psychosozialen Versorgung (regionale psychiatrische Pflichtversorgung und niedrigschwellige Kontakt-, Beratungs- und Zuverdienstangebote) zu steigern. Dies setzt finanzielle Ressourcen voraus, die insbesondere im Bereich der niedrigschwelligen Kontakt-, Beratungs- und Zuverdienstangebote nicht gegeben sind.

Zugleich gilt es, eine berlinweite Planung von Angeboten der psychiatrischen Versorgung
für Migrant/innen zu erstellen, die flexibel ist für die Dynamik der Migration nach Berlin.
Dementsprechend sollte durch das Land Berlin in Zusammenarbeit mit den Bezirken eine
Psychiatrieplanung erstellt werden, die nicht nur eine Aktualisierung des Psychiatrie-
Entwicklungsprogramms (PEP) im Sinne des Ausbaus bestehender Angebote beinhaltet,
sondern auch auf die besonderen Herausforderungen an das psychiatrische und psychosoziale Hilfesystem reagiert, die aktuell und künftig durch den Zustrom von hoch traumatisierten (Bürger-)Kriegsflüchtlingen aus den Krisengebieten der Welt zu erwarten sind.

1 Quelle: Auswertung der Dokumentation der Steuerungsgremien Psychiatrie und Sucht Friedrichshain-Kreuzberg durch die Planungs- und Koordinierungsstelle Gesundheit

Möglicherweise könnte aber auch eine stärkere Öffentlichkeitsarbeit zum Thema „psychische Erkrankungen“ allgemein und im Hinblick auf interkulturelle Besonderheiten notwendig sein, um bei psychisch kranken Menschen mit Migrationshintergrund die Nachfrage nach Hilfsangeboten zu steigern.

9. Welche anderen Organisationen/Freien Träger gibt es für diese Personengruppe
im Bezirk?

Im Bereich der regionalen psychiatrischen Pflichtversorgung existiert im Bezirk ein betreutes Wohnangebot des Trägers PROWO e. V. in Zusammenarbeit mit Catania gGmbH, das sich speziell an erwachsene Migrant/innen der ersten Generation richtet (www.meg-betreuteswohnen.de)

Darüber hinaus liegt uns eine detaillierte Übersicht speziell zu Angeboten der psychosozialen Versorgung für Menschen mit Migrationshintergrund nicht vor. Da die Psychiatriekoordination aktuell nicht besetzt ist, ist eine Erhebung darüber nicht möglich.
Die Vielzahl der regionalen und überregionalen Anbieter der psychosozialen Versorgung,
die im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg aktiv sind, ist im „Wegweiser Psychiatrie und Sucht
Friedrichshain-Kreuzberg“ des Bezirksamtes dokumentiert. Zu finden ist dieser unter:

  • ? www.berlin.de/gesundheit-fk –> „Veröffentlichungen“–> „Wegweiser und Adressenlisten“

Inwiefern bei einer geplanten Aktualisierung des Wegweisers ein Schwerpunkt auf den Bereich „Migration“ gelegt werden kann, wird geprüft.

10. Welche Kooperationen des Bezirks gibt es mit den letztgenannten Einrichtungen?

Die Kooperationen des Bezirks, die durch die Planungs- und Koordinierungsstelle Gesundheit wahrgenommen werden, erstrecken sich vor allem auf die Träger der regionalen psychiatrischen Pflichtversorgung, der niedrigschwelligen Kontakt-, Beratungs- und Zuverdienstangebote und auf die psychiatrischen Stationen der beiden Vivantes Kliniken („im Friedrichshain“ und „Am Urban“).

Die freien Träger und die Kliniken sind neben dem Bezirksamt vertreten in der Psychosozialen Arbeitsgemeinschaft (PSAG) und ihren regelmäßig tagenden Unterarbeitsgruppen (Sucht, Arbeit, psychisch kranke Menschen, Kinder und Jugendliche) und im Psychiatriebeirat. Diese institutionalisierte Form der Zusammenarbeit zwischen Bezirk und freien Trägern ist gesetzlich vorgeschrieben (§§ 6/7 PsychKG).

Hinsichtlich der Zusammenarbeit im Rahmen der PSAG kritisieren die freien Träger, dass
die Kooperation seitens des Bezirksamtes unzureichend wahrgenommen wird. Angemahnt
wird eine regelmäßige Teilnahme der involvierten Fachbereiche bzw. Ämter der Bezirksverwaltung an den Sitzungen und ein anderer Stil der Kommunikation zwischen Teilen der Verwaltung und freien Trägern. Die Kooperation seitens der freien Träger hingegen kann als sehr gut bewertet werden.

Monika Herrmann

Friedrichshain-Kreuzberg, den 11.03.2015
Bündnis 90/Die Grünen
Fragestellerinnen: Jutta Schmidt-Stanojevic, Fadime Fatos

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