Foto: Erik Marquardt

In Zeiten der Corona-Pandemie müssen wir für ein solidarisches Europa kämpfen. Das Corona-Virus darf nicht als Vorwand genutzt werden, Menschen unter unwürdigen Bedingungen unterzubringen oder ertrinken zu lassen.

Ich schreibe diese Worte am Ostermontag. Bereits vor Tagen gingen vier Notrufe von Schlauchbooten ein, die sich in Seenot befinden, aber Malta und Italien behaupten,wegen der Coronakrise, keine sicheren Häfen mehr zu haben.

Für Menschen in Seenot sind die Häfen nun dicht, doch Dutzende anderer Schiffe fahren auf Malta ein und aus, als sei nichts gewesen. Mindestens eines der Schlauchboote ist nun untergegangen. Die Männer, Frauen und Kinder sind alle ertrunken. 85 Tote. Wir tun gerade alles in unserer Macht stehende, um die Menschen auf den drei anderen Booten in Seenot zu retten.

Es kann doch nicht sein, dass wir Menschen auf dem Mittelmeer sterben lassen, nur weil Politiker Angst vor Rechtspopulisten haben oder glauben, man könne damit andere abschrecken in die Boote zu steigen.

Europa und seine Mitgliedsstaaten dürfen die Pandemie nicht als Rechtfertigung nutzen, um Menschen auf dem Mittelmeer sterben zu lassen. Wir als Europäerinnen und Europäer sollten die Coronakrise  nutzen, um uns zu fragen, wer wir eigentlich sind und wie wir für ein besseres und solidarisches Europa kämpfen.

Erdoğans Grenzöffnung und Rechtsextreme auf Lesbos

Seit Ende Februar bin ich auf Lesbos und hätte damals nicht gedacht, dass die Situation viel schlimmer werden könne. Ich wollte die sitzungsfreie Woche hier verbringen, um mir anzuschauen, wie sich die Lage auf Moria entwickelt. Ein Lager, in dem Menschen seit vier Wintern auf dem feuchten Boden oder in Sommerzelten schlafen.

Dass Menschen in der EU so leben müssen, ist eine Schande für uns alle. Die Situation hier ist nicht so schlecht, weil die EU es nicht besser organisieren könnte. Sie ist so schlecht, weil das politisch gewollt ist. Es ist politisch gewollt, dass die Verhältnisse so schlimm sind, weil man auch hier, wie im Mittelmeer, abschrecken will. Aber das Ziel kann doch nicht sein, dass in den Lagern an den Außengrenzen schlimmere Verhältnisse herrschen, als in einem Bürgerkrieg, nur damit keiner mehr auf die Idee kommt, nach Europa zu fliehen.

Mit der Vermutung, dass es kaum schlimmer kommen könne, habe ich mich leider geirrt. Nachdem Erdoğan eine Grenzöffnung verkündete und plötzlich ein paar Tausend Menschen an der Außengrenze standen, reagierte Griechenland mit Gewalt und setzte einfach das Grundrecht auf Asyl aus. Die griechische Küstenwache begann in Richtung von Schlauchbooten voller Menschen zu schießen, statt diese zu retten.

Man ließ Boote stundenlang in Seenot verharren, statt sofort einzugreifen. Ein Mädchen ertrank bei dem Versuch nach Lesbos zu gelangen, obwohl man sie hätte retten können.

Rechtsextreme aus ganz Europa mobilisierten den Mob auf die Insel. An manchen Tagen kamen mehr Nazis als Flüchtlinge auf Lesbos an. Rechte Banden übernahmen die Straßen und patrouillierten mit Eisenketten in der Stadt. Rechtsradikale konnten hier tagelang Jagd auf Hilfsorganisationen, Geflüchtete und JournalistInnen machen, ohne dass die Polizei eingriff. Eine Hilfseinrichtung wurde sogar in Brand gesteckt.

Das Corona-Virus ist eine Gefahr für die Menschen in den griechischen Lagern

Und dann kam es noch einmal schlimmer. Das Corona-Virus breitet sich sehr schnell in Europa aus. Während überall in Europa Kontaktverbote und Ausgangssperren verhängt wurden, leben hier 20.000 Menschen zusammengepfercht in einem Lager, das für 3000 Menschen errichtet wurde. Auf 1300 Menschen kommt ein einziger Wasserhahn und selbst der fällt ständig aus. Man kann sich hier kaum die Hände waschen, geschweige denn, sich in Social Distancing üben.

Die Mitgliedsstaaten haben Möglichkeiten, die Corona-Katastrophe in überfüllten Flüchtlingslagern zu verhindern. Es ist doch in unserem Interesse, dass wir keine Orte in Europa zulassen, in denen sich das Virus ungehindert ausbreiten kann. Man muss die Lager nicht trotz, sondern wegen Corona schnell evakuieren.

#Leavenoonebehind

Wir brauchen vor allem den politischen Willen, Probleme zu lösen, statt immer zu erzählen, was wir alles nicht tun können. Viel zu lange haben wir die Geflüchteten und Bürger*innen auf den griechischen Inseln im Stich gelassen. Die EU hat diese Zustände an den Außengrenzen mitzuverantworten. Sie hat das Haus an der Außengrenze angezündet und nun freut sich die EU und die deutsche Bundesregierung, wenn sie ein paar Kinder aus dem brennenden Haus retten. Ich finde das beschämend.

Um mehr Aufmerksamkeit für das Thema zu schaffen, habe ich die Kampagne „Leave no One behind“ mit ins Leben gerufen. Es geht darum, dass Bürgerinnen und Bürger aus ganz Europa in der Coronakrise zusammenstehen und sich für jene einsetzen, die unsere Solidarität brauchen. Dazu gehören die Geflüchteten  an unseren Außengrenzen, die Obdachlosen, die Alten und Kranken. Wenn wir jetzt nicht handeln, machen wir uns mitschuldig an der Katastrophe, die diese Menschen bedroht.

Wir können Menschen aus den unwürdigen Zuständen in Lagern wie Moria holen. Wir können auch weiterhin Menschenleben im zentralen Mittelmeer retten. Doch Staaten wie Italien, Malta und Griechenland weigern sich zu handeln, weil sie sagen, sie hätten mit Corona schon genug zu tun. Das deutsche Innenministerium sagt, Rettungsschiffe sollen nicht mehr rausfahren und jene die draußen sind, sollen zurückkommen, denn wegen Corona sei alles sehr schwierig.

Aber wir können doch nicht ernsthaft als Europa sagen, die Menschen sollen ertrinken, weil sie danach vielleicht in schwierige Coronasituationen kommen.  Das ist unwürdig, denn wir sind verantwortlich für das, was an unseren Außengrenzen passiert. Dort zeigt sich, wer wir sind.

Erik Marquardt, MdEP für den Stachel 04/20.