In letzter Zeit sind keine Hoffnung versprechenden Ereignisse für die Demokratie in der Türkei passiert: wenige Stunden nach der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen wurde auf der Internetseite des Generalstabs eine "E-Putschdrohung" gesendet, da das Militär das laizistische Regime in Gefahr sehe.

Diese Gefahr bezieht sich auf den möglichen Aufstieg eines eigenen Kandidaten der regierenden AKP (Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei) zum Präsidentenamt. Des Weiteren hat das Verfassungsgericht in dieser sogenannten Präsidentschaftskrise einen mit den Regeln der Verfassung in Widerspruch stehenden Beschluss getroffen und die erste Wahlrunde für nichtig erklärt. Dies hat zu den Kommentaren der Professoren für Verfassungsrecht geführt, dass das Verfassungsgericht politisch agiert und sich sogar an die Stelle der Gesetzgebung gesetzt habe. Der einzige Kandidat, Außenminister Abdullah Gül, einer der Vertreter des religiösen Flügels der AKP, hat seine Kandidatur für das Amt des Staatspräsidenten zurückgezogen, nachdem der zweite Wahlgang im Parlament aufgrund eines Boykotts der Opposition gescheitert ist. Die vorgezogene Parlamentswahl am 22. Juli soll einen Ausweg für die Staatskrise bieten.

Friedliche Massenproteste in den Großstädten Eine entscheidende Facette der politischen Spannung in den vergangenen Wochen waren die friedlichen Massenproteste in den Großstädten, wo ca. 1 Million Teilnehmer gegen die Regierung demonstriert haben. Auch wenn es beruhigend ist, dass auf den Demonstrationen „weder Putsch noch Scharia“ im Vordergrund standen, ist zu erwarten, dass sich das Militär durch diese Proteste in seiner Einmischungsplitik berechtigt sieht. Die Proteste zeigen einerseits die ungeschickte Politik der AKP, die weder den Ängsten der säkularen städtischen Mittelschicht noch der Glaubensfreiheit der Aleviten Aufmerksamkeit geschenkt hat und sich an ihre absolute Mehrheit im Parlament anlehnt ohne sich vor den Präsidentschaftswahlen mit den Oppositionsparteien um eine Konsensfindung zu mühen. Andererseits weisen die Demonstrationen auf den reaktionären Nationalismus hin, der sich sowohl gegen die Untergrabung des Sozialstaats als auch die Enttäuschungen bezüglich des EU-Beitrittsprozesses richtet. Zu Denken gibt es, dass die Polizei auf die Demonstranten am 1. Mai in Taksim mit Tränengas, Schlagstöcken und Warnschüssen losgegangen ist und Hunderte festgenommen hat, während die Demonstrationen gegen die Regierung auf keine Hindernisse seitens der Polizei gestoßen sind.

Oppositionsbündnisse gegen die herrschende AKP Nicht zuletzt durch die Demonstrationen sind die Parteien aufgefordert, gegen die AKP Bündnisse zu schliessen. Das rechts-konservative Lager, Mutterlandspartei (ANAP) und die Partei des Rechten Weges (DYP), haben sich unter den Namen „Demokratische Partei“ fusioniert. Allerdings ohne grundlegender Vereinbarung, wie dies ideologisch und parteiarithmetisch funktionieren soll. Im linken Lager haben die größte Oppositionspartei, Republikanische Volkspartei (CHP) und Demokratische Linkspartei (DSP) bereits ein Bündnis geschlossen. Abgesehen davon, dass es sehr umstritten ist, ob diese Parteien seit den 90er Jahren eine linke, sozial-demokratische Politik vorantreiben und mit den übrigen Parteien aus dem linken Lager interagieren,würde ihr Bündnis nichts mehr als die Summe des Vorhandenen bringen. Sie haben unübersehbare Unterschiede bezüglich der sozio-ökonomischen und politischen Eigenschaften ihrer Basis. Vor allem haben sie kein Programm gegen die prekäre Wirtschaftssituation. Darüber hinaus provoziert die CHP die Spannungen zwischen der Militärführung, der Staatsbürokratie und der AKP und rechnet mit einem politischen Gewinn aus dieser Krise.

Trotz aller Proteste und Spannungen deuten die letzten Umfragen auf steigende Stimmen der AKP-Wähler hin. Jedoch ist die Wählerschaft schwankend. Da alle drei Jahre 60-70% des Parlaments wechseln, kann man keine zuversichtlichen Schätzungen machen. Das ist auch auf die Putsche, Putschmahnungen und Parteiverbote zurückzuführen. Diesmal wollen wir auf die demokratische Reife der Türkei hoffen und aus der Krise rauskommen, ohne in eine autoritäre Herrschaft zurückzufallen.

Mehtap Söyler