Um den 9. November rum werden sie wieder auf den Bildschirmen flimmern: die jungen dauergewellten Leute, die in ihren lilafarbenen Anoraks den Grenzer an der Bornholmer Straße umarmen oder – ich denke doch noch den guten halbtrockenen – Rotkäppchen-Sekt auf dem Mauerstück vor dem Brandenburger Tor trinken. „30 Jahre ist das jetzt schon her!“, werden wir seufzen. Damals sind die Leute trotz der realen Gefahr durch die Stasi auf die Straße gegangen, um für ihr Wahlrecht zu kämpfen. Ich habe es ja noch nicht mal zu einem Friday for Future geschafft.
Der Aufbruch ist falsch abgebogen
Vor ein paar Jahren konnte man noch saumselig ein paar gerührte Tränen kullern lassen und war doch irgendwie gewiss, dass es schon noch hier und da in Deutschland ruckelt, aber „zusammen ist, was zusammengehört!“. Auch 2015 bei der Lichtergrenze entlang des ehemaligen antifaschistischen Schutzwalls war es ein ganz muckeliges Gefühl, dabei standen da schon seit einem Jahr Leute vor der Dresdener Frauenkirche und bekundeten mehr oder weniger, dass sie die Demokratie scheiße finden. Ekligerweise riefen sie: „Wir sind das Volk!“, und wollten damit sagen, dass ausländisch gelesene Personen es nicht sind und der Euro wegmuss. Die Merkel sei eine Diktatorin mit einer linksgrünversifften, genderfanatischen Mitläufer*innen-Armee. All das in einer Stadt, die auf jeden Fall zu den versprochenen blühenden Landschaften gehört und einen Ausländeranteil von 4,4% hat.
Natürlich machte sich Empörung breit, aber irgendwie dachte man auch, dass das Spinner*innen sind und sich das schon verwächst. Was es ja nach Rostock-Lichtenhagen und der Entdeckung des NSU auch schon nicht getan hat. Man hätte ja mal objektiv anerkennen können, dass der gesamte Staat auf dem rechten Auge blind ist, und aufarbeiten müssen, warum sich die Gewalt in ostdeutschen Bundesländern bündelt. Dass es in Westdeutschland kein Nazidenken gibt, kann mir keine*r erzählen: Kein einziger Nazirichter wurde in der BRD verurteilt. Das neo-nationalsozialistische Netzwerk in der Bundeswehr und unter Polizist*innen ist ein Fakt. Im Grunde tragen manche Faschos beige Windjacken, manche Londsdale-Jacken und viel zu viele Sturmhauben.
Ossi-Bashing für alle
Was aber passiert ist, ist das, was Rechtspopulist*innen kalkuliert haben: Spaltung und Abgrenzung. „Die da drüben wollen keine Demokratie? Zieht die Mauer wieder hoch!“, „Denen haben sie die Diktatur ins Hirn gebrannt!“, „Sucksen! Jammerossi!“, und irgendwie spürt man, dass viele etablierte Ressentiments endlich rausgelassen werden dürfen. Der Spiegel-Titel mit dem Deutschlandflaggen-Angelhut und den Worten „So isser, der Ossi!“ ist der aktuelle Höhepunkt. Im Grunde hätten sie auch die Zonen-Gabi ausgraben können.
Eine einfache Erklärung der historischen und persönlichen Fakten ist eigentlich auch nicht erwünscht. In Gesprächen gibt es im Grunde nur Anfeindungen. Eine Freundin aus Leipzig wird bei einem Essen angebrüllt, warum alle bei Pegida demonstrieren. Ich werde gefragt, ob meine Eltern nicht erkannt haben müssen, dass sie in Unfreiheit leben? Die sind Anfang der 50er geboren und na klar, Renate, die Flucht über die Mauer wäre ja im Grunde auch nur ein witziges Abenteuer. Leute aus Heidelberg und München sagen dir ins Gesicht, dass die Leute sich doch nicht beschweren sollen: „Ihr hattet doch nüscht!“ (Diesen Witz dürfen ausschließlich wir Ossis machen.) Und wie dämlich doch alle bei ihrem ersten Westbesuch aussahen in den „guten“ Klamotten. Aber ist ja nur lustig gemeint, wird man ja wohl nochmal sagen dürfen, höhö. Kurzum: Es herrscht eine Erwartungshaltung bei Menschen, deren einziger Einschnitt durch die Wende der Soli war, die unrealistisch ist.
Wen basht man da eigentlich?
Bei all dem unerwarteten Hohn, der auf einen einprasselt, ahnt man auf einmal, woher diese Frustration „da drüben“ kommen muss. Die Veränderungen in den neuen Bundesländern waren gravierend. Betriebe wurden abgewickelt, die Währung abgewertet und Ausbildung und bisher Geleistetes schlichtweg aberkannt. Was ist das für eine Reisefreiheit, wenn du dir nichts leisten kannst? Oft wird auch vergessen, dass es bei den Demos 1989 um Reformen in der DDR ging, nicht unbedingt um eine schnelle Wiedervereinigung. Natürlich muss Zeit ins Land gehen, damit etwas gut wird. Trotzdem wurde kein einziges Gesetz aus der DDR-Verfassung, die in Teilen progressiver war als die in der BRD, übernommen. Zum Beispiel Kinderbetreuung. Wie soll man sich da fühlen? Und jetzt gibt es Landstriche, die aussterben, weil qualifizierte Menschen weggehen. Die Dagebliebenen fühlen sich abgehängt. Die etablierte Politik hat das einfach vergessen oder zumindest die Konfrontation gescheut, Robert Habeck hat dies auch zugegeben. Es ist ein Fakt, dass nur 4 Prozent in den deutschen Vorständen aus der ehemaligen DDR kommen: es zeigt sich ein offensichtliches Ungleichgewicht in Karrierechancen. In jeder Diskussion darüber wird mir vorgeworfen, dass das alles Jammerossis sind. Ja, laut Umfragen sind es frustrierte mittelalte Männer. Die gibt’s überall, aber warum da so viele? Und eigentlich sollten gerade die wissen, dass Rassismus scheiße ist.
Jetzt aber weg mit der Mauer!
Die Nazis, Rechtspopulist*innen und Aluhut-Träger*innen haben also ein Vakuum gefüllt, das nach der Wende entstand: In den Jugendclubs und Vereinsheimen waren sie es, die Konzerte oder Ähnliches organisiert haben. Die Mischung aus Ignoranz, Frustration und Empathielosigkeit trägt nun bei vielen die kalkulierten braun-blauen Früchte. Die Mauer ist in den Köpfen und die muss weg! 27,5 Prozent in Sachsen und 23,5 Prozent in Brandenburg sind eine alarmierende Klatsche, aber sie bedeuten nicht, dass alle so denken. Auch wenn die AfD immer wieder gern von der Enttäuschung in die bürgerlichen Parteien redet, halten viele Menschen und Initiativen engagiert dagegen. Sie müssen unbedingt weiterhin unterstützt werden, nicht nur im Wahlkampf. Es gab in der DDR ein geflügeltes Wort: „Du musst in die Betriebe gehen!“ Also machen wir das jetzt auch bitte. Denn mit jeder Wahl, bei der die AfD erfolgreich ist, bleibt immer nur Wut und Ratlosigkeit und das hat ja augenscheinlich zu nichts geführt.
Friederike Suckert für den Stachel September 2019